„Wir versuchen standzuhalten“

Es braucht Generatoren, Menschen müssen sicher evakuiert werden und jeder Cent zählt: Über Not und die Herausforderungen für die Hilfe vor Ort in der Ukraine berichtete Olga Nikolska bei der Geberkonferenz für den Ednannia-Hilfsfonds der Stiftung Aktive Bürgerschaft am 24. November 2022. Nikolska ist Programm-Leiterin der ukrainischen Organisation ISAR Ednannia, die Bürgerstiftungen in der Ukraine unterstützt. Sie war aus Kiew zugeschaltet. Wir dokumentieren in Auszügen ihre Antworten und die Fragen, die Bernadette Hellmann, stellvertretende Geschäftsführerin der Aktiven Bürgerschaft, und Teilnehmende der Geberkonferenz ihr stellten. 

Olga, Sie sind im Ednannia-Büro in Kiew. Wie sieht aktuell das tägliche Leben in Kiew aus? 

Gestern wurden Teile der kritischen Infrastruktur von Raketen getroffen. Das ganze Land war die Nacht über ohne Elektrizität, Heizung, Wasser und ohne Internet. Vor neun Monaten hätte ich nicht glauben können, dass so etwas möglich ist im 21. Jahrhundert!

„Es gibt nirgends mehr sichere Orte“ 

Unser Team macht weiter und unterstützt die ukrainische Zivilgesellschaft ohne Unterbrechung. Am 25. Februar, einen Tag, nachdem der Krieg begann, haben wir unseren Notfallfonds für zivilgesellschaftliche Organisationen eingerichtet. Kurz danach begannen Organisationen aus aller Welt uns zu kontaktieren, die die Ukraine unterstützen wollten. So schrieb mir auch Bernadette eine E-Mail und wir haben den Hilfsfonds eingerichtet, um den es heute geht. Wir sind extrem dankbar dafür. Die Situation ist heute schlimmer, als wir uns je vorstellen konnten. Wir versuchen standzuhalten. Es gibt nirgends im Land mehr sichere Orte, buchstäblich nirgends einen Platz, wo man sich vor den Raketen verstecken kann, die auf jedes Ziel abgefeuert werden.

Wie unterstützt ISAR Ednannia die Bürgerstiftungen?  

Wir starteten 2009 damit, Bürgerstiftungen im ukrainischen dritten Sektor bekanntzumachen. Bürgerstiftungen hier in der Ukraine unterscheiden sich ziemlich vom klassischen Modell der Bürgerstiftungen in Deutschland und den USA. Hier müssen sie 24 Stunden am Tag darum kämpfen, Geld in den Pool zu holen. Aber wir sind sehr stolz, dass unter den jetzt sehr schwierigen Umständen unsere Bürgerstiftungen nicht lockergelassen haben, sondern weitermachen und sich sozusagen in große Humanitäts-Hubs verwandeln. Denn sie kennen jeden bei sich am Ort, sie haben das Vertrauen der Menschen, Behörden und Geschäftsleute gewonnen. Zum Beispiel betreibt die Bürgerstiftung in Vinnytsya seit dem 24. Februar eine Art riesiges Lagerhaus für die humanitäre Unterstützung, mit Unterstützung aus, wenn ich nicht irre, 25 Ländern. Sie verteilt die Hilfsgüter an Binnenflüchtlinge in Vinnytsya und in anderen Regionen. Die Bürgerstiftung hat mehr als 100.000 Geld- und Sachspenden für die humanitäre Unterstützung bekommen und an die Orte mit dem dringendsten Bedarf verteilt. Das Vertrauen ist der Vorteil der Bürgerstiftungen, dort und in der ganzen Ukraine.

Wie werden die Gelder aus dem Ednannia Hilfsfonds verwendet? 

Sie fließen in fünf Bereiche, die wir im Rahmen unseres Programms „People for People: the world saves Ukrainian communities“ definiert haben, um Projekte der Zivilgesellschaft zu unterstützen:

  • Wiederaufbau der sozial kritischen Infrastruktur, zum Beispiel Wasserfilter für das Krankenhaus in Mykolajiw, das beschossen wurde und dessen Wasserversorgung ausfiel.
  • Nachhaltige Lösungen, um Nahrungsmittelsicherheit auch in abgelegenen Gebieten zu sichern: Wir unterstützen Kleinbauern und Menschen, selbst Nahrungsmittel anzubauen und ihre Selbstversorgung zu sichern.
  • Kontinuierliche Verbesserung der Lebensqualität vulnerabler Personen, die innerhalb der Ukraine geflüchtet sind. Zum Beispiel haben wir in einem alten, nicht genutzten Schulgebäude, in dem sie untergebracht wurden, für Küchen- und Bad-Ausstattung gesorgt.
  • Evakuierung aus Orten, denen die Besatzung droht. Wir organisieren den Transport. Das ist sehr wichtig.
  • Hilfe für vertriebene Menschen mit Beeinträchtigungen. Das ist ein riesiges Problem.

Wir haben mehr als 500 Anträge auf Hilfe von Bürgerstiftungen und anderen lokalen gemeinnützigen Organisationen bekommen. Aktuell können wir knapp 60 verschiedene Projekte in der gesamten Ukraine unterstützen.

„Wir brauchen Generatoren, um den Winter zu überleben“ 

Wie geht es weiter: Was werden Bürgerstiftungen nun tun, um den Menschen in diesem langen und kalten Winter zu helfen? Was wird gebraucht? 

Wenn die Raketenangriffe weitergehen, brauchen wir auf jeden Fall mehr Generatoren, unter anderem für Krankenhäuser. Auch wenn der Staat versucht, das zu organisieren und Notunterkünfte einrichtet: Wir haben nicht genug Generatoren, um den Winter zu überleben. Die Bombardierungen treffen zivile Ziele wie Krankenhäuser. Die kritische Infrastruktur muss dann wieder aufgebaut werden. Bürgerstiftungen können all das unterstützen.

Cherson wurde zwar von den Russen verlassen, aber sie bombardieren es jeden Tag. Es ist schwer vorherzusagen, was weiter passieren wird. Insbesondere die Bevölkerung aus befreiten Gebieten braucht Hilfe. Wir hoffen, dass wir standhalten und gewinnen können – mit Ihrer Hilfe. Ohne Partner und Freunde könnte ich mir nicht vorstellen, dass die Ukraine nach neun Monaten Krieg hier noch stehen könnte, wo sie jetzt steht. Ihre Unterstützung ist von existenzieller Bedeutung. Jeder Cent ist von existenzieller Bedeutung für die Ukraine.

Der Ednannia-Hilfsfonds
Infos zur Geberkonferenz der Aktiven Bürgerschaft

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