Die Bundesregierung hat in der Covid-19-Pandemie die Zivilgesellschaft nicht adressiert. Zufall oder neuer Realismus?
von Holger Backhaus-Maul
Die Covid-19-Pandemie hat nicht nur grundlegende Mängel des Gesundheits- und Pflegesystems in Deutschland in Erinnerung gerufen, sondern mit kurzer Verzögerung auch die Gesellschaft als Ganzes ergriffen. Krisen sind die Stunde des Staates, konkret der Bundesregierung, die angesichts von Unsicherheit Sicherheit verspricht, die es im globalen Kapitalismus aber nicht geben kann.
In rechtsstaatlich verfassten Demokratien wie in Deutschland folgen weitreichende Regierungsentscheidungen nicht nur dem Machtkalkül, sondern berücksichtigen auch wissenschaftliche Erkenntnisse und Empfehlungen. Und nach einem kurzen Moratorium – Demokratie sei Dank – melden sich dann auch Parlamente, Parteien, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur wieder zu Wort. Denn es geht jetzt um Vieles und Grundlegendes.
Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte
Die Entscheidungen der Bundesregierung haben Folgen. Das Sicherheitsversprechen der Bundesregierung ruft eine beachtliche und anerkennenswerte Folgebereitschaft auf Seiten der Bürger und Bürgerinnen hervor. Schon lange konnte sich die Bundesregierung keiner derart hohen Zustimmung mehr erfreuen. Das Sicherheitsversprechen geht aber einher mit der Einschränkung von bürgerlichen Freiheitsrechten, wie der Wahl des Aufenthaltsortes, dem Recht auf Bildung und der Ausübung des Demonstrationsrechtes. Entscheidungen, die begründungspflichtig und erklärungsbedürftig sind und nur kurzzeitig gelten können.
Dabei geht die Priorisierung des Gesundheitsschutzes zu Lasten von wirtschaftlicher Entwicklung, Bildung und Kultur. Die tiefgreifenden finanzpolitischen Entscheidungen der Bundesregierung binden zukünftige Regierungen und schränken deren Entscheidungs- und Handlungsspielräume erheblich ein. Zudem begünstigen die Entscheidungen der Bundesregierung Ältere und belasten Jüngere. So könnten für die akute Bewältigung der Krise des globalen Ökosystems schlicht die notwendigen Ressourcen fehlen. Dass die Entscheidungen der Bundesregierung zudem negative armuts-, bildungs- und geschlechterpolitische Folgen nach sich ziehen, erscheint fast schon wie ein Kollateralschaden.
Jetzt geht es um wohlbedachte Wege zurück in den öffentlichen Raum und die Frage der Neuverteilung gesellschaftlicher Rollen. Politik, Wirtschaft, Bildung und Kultur beginnen zu debattieren, zu demonstrieren und zu verhandeln. Und die Zivilgesellschaft? Die Bundesregierung hat sie in den vergangenen Wochen nicht adressiert und die Zivilgesellschaft selbst hat sich auch nicht vernehmbar zu Wort gemeldet.
Die Zivilgesellschaft ist „nicht systemrelevant“
Neuer Realismus oder Staatsversagen? Der Katastrophenschutz und das Rettungswesen – als konventionelle Sparten der Zivilgesellschaft oftmals in ihrer Bedeutung verkannt – sind staatlicherseits nicht hinreichend ausgestattet worden. Krankenhäuser und Altenhilfeeinrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege sind staatlicherseits unterfinanziert. Eine nunmehr seit zwanzig Jahren geforderte öffentliche Engagement-Infrastruktur ist vielerorts ein „frommer Wunsch“ geblieben. Und unter ihren Rettungsschirmen bedenkt die Bundesregierung ihre Zuwendungsempfänger, hat aber für die Zivilgesellschaft keinen Platz vorgesehen. Stattdessen scheint sie an ihrem Vorhaben einer Bundesbehörde zur staatlichen Engagementförderung festzuhalten. Die Zivilgesellschaft ist eben „nicht systemrelevant“.
Und die Zivilgesellschaft selbst? „Es wird geklatscht, eingekauft und gebastelt“. Vereinzelt werden Respekt und Anerkennung gegenüber der Zivilgesellschaft von Experten eingefordert, während zivilgesellschaftliche Spartenverbände wirtschaftliche Unterstützung für sich fordern. Aber das kann es doch nicht gewesen sein angesichts der kurzen „historischen“ Situation, in der jetzt über gesellschaftliche Zukunftsfragen entschieden wird. Wo bleiben die konkreten Vorschläge und die profunde Kritik der Zivilgesellschaft angesichts weitreichender gesellschaftspolitischer Entscheidungen?
Wiegt sich die Zivilgesellschaft lammfromm und brav in Sicherheit, – eine Sicherheit, die der Staat ihr für die Zukunft nicht garantieren kann, zumal er sie nicht einmal mehr im Blick hat?
Kommentar von Dr. Holger Backhaus-Maul für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 210 – April 2020 vom 27.04.2019