„Die respektieren mich, das ist echt cool“

Verantwortung übernehmen, neue Dinge lernen, sich in einer anderen Rolle erleben: In der Praxisphase erfahren die Schülerinnen und Schüler des siebten Jahrgangs, dass sie im Alltag für andere einen Unterschied machen können. Und daran selbst wachsen.

So wie die zwölfjährige Lotta Steffens. In der CVJM Kita Alte Mauritzschule in Münster herrscht an diesem frühen Donnerstagnachmittag so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Lotta sitzt auf einem großen Sofa, umringt von zwei- bis sechsjährigen Kindern der Eichhörnchengruppe, und liest vor. Gerade ist nach dem Mittagessen ein wenig Ruhe angesagt.

Seit Anfang März kommt Lotta jede Woche im Rahmen der sozialgenial-AG für zwei Schulstunden in das ehemalige Schulgebäude, in dem nun die Kita untergebracht ist. Im Eingangsflur hängt ihr „Steckbrief“, eine kurze Vorstellung mit ihrem Foto, damit die Eltern ihr Gesicht einordnen können. Lotta liest vor, so hat sie selbst auf dem Zettel ihre Aufgabe beschrieben. Heute tut sie dies so lange, bis der Akku der Kleinen wieder aufgeladen ist. Dann wollen sie mit ihr in den Toberaum im ersten Stock.

Für Lotta, die in ihrer Freizeit als Babysitterin gleich auf drei Kinder aufpasst, war es keine Frage, dass sie ihre AG-Zeit mit Kindern verbringen wollte. Sie entschied sich also in der Vorbereitungsphase in der Schule für das Thema Bildung und Teilhabe. Bei der Suche nach einem Ort für ihr Engagement traf es sich gut, dass ihr Vater als Sozialpädagoge im CVJM Kindergarten arbeitet – warum also nicht dort, schlug Lottas Mutter vor. „Aber anrufen und dich bewerben musst du selbst, habe ich zu ihr gesagt“, erzählt ihr Vater. Das tat sie, Leiterin Miriam Rüther war sofort einverstanden.

Für die Kinder ist Lotta wie ein Bonus in ihrem Kita-Alltag. Und auch das Kita-Team ist froh über die Unterstützung. „Die Kinder drehen am Nachmittag noch mal richtig auf“, sagt Lottas Vater. Seine Tochter könne in der zweiten Tageshälfte dann Dinge mit den Zwei- bis Sechsjährigen unternehmen, zu denen die Erzieherinnen und Erzieher nicht genug Zeit hätten. Zum Beispiel immer wieder die Nestschaukel im Toberaum anzustoßen. Sie hängt an vier Seilen in dem mit dicken Matten ausgelegten ehemaligen Schulzimmer. In der Schaukel sitzen abwechselnd Bruno, Thea, Max und Jona, allesamt drei Jahre alt. „Noch mal“, schallt es aus dem Nest, „noch mal“. Lotta gibt Schwung, hilft wieder auf die Beine und reicht Hände, wo es nötig ist, und tröstet auch mal, wenn Tränen fließen.

Sabine Fuchs, die an der Schule die sozialgenial-AG betreut, schaut vorbei und freut sich, dass Lotta offensichtlich den richtigen Ort gewählt hat. „Uns ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler sich selbst um ihre Engagementplätze kümmern“, sagt sie. Das könnte die Schule auch gar nicht leisten. Sie stellt den Schülerinnen und Schülern anfangs mögliche Schwerpunkt vor, sodass sie sich für ein Feld entscheiden können. Dann sind sie selbst gefragt: Die Siebtklässler machen sich nicht nur Gedanken darüber, woran sie Spaß haben und wo sie zugleich etwas lernen können. Sie sollen dann auch selbst bei den Einrichtungen oder Vereinen nachfragen.

Von den 120 Schülerinnen und Schülern sind in diesem Schuljahr 100 an verschiedenen über die Stadt verteilten Orten aktiv. 20 weitere nehmen an Projekten in der Schule teil, bauen dort zum Beispiel eine „Bank der Begegnung“ oder treffen sich mit Seniorinnen und Senioren des benachbarten Klarastifts im Generationencafé der Schule. Eigentlich sollte die AG Anfang Februar beginnen, dann wurde es wegen Corona der erste März. Immerhin besser als die beiden Jahre zuvor, als der sozialgenial-Einsatz wegen des Virus ganz ausfallen musste.

Wenn es Probleme gibt, wäre Sabine Fuchs Absprechpartnerin für die Projektpartner – „aber das kommt eigentlich nicht vor“, sagt sie aus ihrer Erfahrung. Sie führt eine Liste mit allen Organisationen und Einrichtungen, in denen sich ihre Schülerinnen und Schüler bisher engagiert haben. Die ist ein wichtiger Fundus. Falls die Jugendlichen nicht selbst eine Idee haben, können sie sich hier Anregungen holen.

Nur wenige Hundert Meter von der Kita entfernt machen sich Lino Tjong-Ayong (12), Karl Martens (12) und Luis Förster (13) die Hände in der Erde schmutzig. Die drei Schüler sind befreundet und verbringen ihre sozialgenial-AG-Stunden beim Umwelthaus in einer kleinen Seitenstraße unweit des Münsteraner Bahnhofs. In dem alten Backsteinhaus hat Münsters Umweltforum, der Dachverband zahlreicher Umweltgruppen, seinen Sitz, Anke Feige ist dort Geschäftsführerin. Als die drei vor einiger Zeit anfragten, ließ sie sich das Projekt erklären und bat um eine Woche Bedenkzeit. „Ich wollte sichergehen, dass ich sie in etwas Sinnvolles einbinden kann“, erinnert sie sich. Dann sagt sie zu, denn sie hatte Ideen.

Heute sollen Lino, Karl und Luis eine große rechteckige Baumscheibe auf der anderen Straßenseite bepflanzen. Letzte Woche hat Luis die Aktion bereits vorbereitet, Gras und Wurzeln aus dem Boden entfernt. Der ist rund um die Baumwurzeln so hart, dass die Schüler zunächst vergeblich versuchen, mit kleinen spitzen Schaufeln Löcher für die Pflanzen zu graben. Anke Feige holt schließlich einen Spaten aus dem Haus, auf den sie ihr ganzes Gewicht stemmen können.

Die Geografin hat für heute kleine heimische Stauden wie Katzenminze und Storchenschnabel besorgt und zeigt, wie sich die kleinen Pflanzen möglichst vorsichtig aus ihren kleinen Plastiktöpfen lösen lassen. „Die Verteilung überlasse ich euch“ sagt sie und die drei legen los. Am Ende sind die kleinen Pflanzen in der Baumscheibe versenkt. Dann verteilen sie noch frische Erde auf der Oberfläche und gießen die Stauden. Nach den Osterferien werden sie sehen, was sich in ihrem Beet getan hat. „Das hat Spaß gemacht“, resümiert Karl am Ende der Aktion. Zugleich haben er und seine Freunde gelernt, ein Beet anzulegen.

Später falten sie an einem großen Tisch im Erdgeschoss des Umwelthauses Tüten für Wildblumensaaten und befüllen sie. Die werden vor der Haustür gegen eine Spende den Passanten angeboten. Mittlerweile sind die drei ein eingespieltes Team: Karl faltet das Blatt zu einem Umschlag, Lino befüllt ihn mit Samen und Luis klebt den Umschlag mit einem Etikett des Naturhauses zu – und ab den in Karton. Die Wildblumen haben sie auch selbst bereits in Kästen im Garten ausgebracht.

„Für uns sind die drei eine Bereicherung“, sagt Anke Feige. Sie würde wieder Schülerinnen und Schüler für das Projekt aufnehmen, „solange ich sie sinnvoll einsetzen und ihnen etwas beibringen kann“.

Für uns sind die drei eine Bereicherung.

Anke Feige, Umweltforum Münster e.V.

Die Kinder docken in ihrem Engagement an ihre Interessen an. Für den 13-jährigen Lasse Farwick ist dies seine Fußballbegeisterung, er hat den Schwerpunkt Werte und Bildung gewählt. Lasse spielt beim TSV Handorf seit Jahren in einer Mannschaft und trainiert dort regelmäßig. Nun hilft er im Rahmen der sozialgenial-AG mit seinem Freund beim Training der U9-Gruppe, der Kinder bis neun Jahre.

Die offiziellen Trainer der Kleinen, der 16-jährige Gerrit Rulle und sein Freund Hanno, geben ihr Wissen gerne weiter. Gerrit macht nächstes Jahr Abitur und wird sein Engagement beim Verein zurückfahren müssen. Dann müssen die Jüngeren ran, der Vereine braucht Trainer-Nachwuchs. Die AG ist eine gute Chance, Lasse aktiv in das Training einzubinden und ihm Verantwortung zu übertragen. „Die Trainer geben mir die Chancen zu lernen, wie man die Übungen anleitet“, erzählt Lasse später. Er baut zum Beispiel aus Hütchen und Stangen einen Parcours auf dem Platz auf, übt mit den Kleinen Torschüsse und gibt Feedback. Ab und zu bekommt er auch die Pfeife und das Kommando.

Die Übungen für die Kleinen kennen die Siebtklässler aus ihrem eigenen Training. Mindestens so wichtig sind Gerrits Hinweise, wie man die Kinder motiviert, lobt und nicht durch eine unbedachte Äußerung frustriert. Manche brauchen ein ernstes Wort, wenn sie sich nicht konzentrieren, andere eher einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. So lernen Lasse und sein Freund auf dem Platz nicht nur Trainingseinheiten, sondern auch Teambildung, Motivation und Menschenführung.

„Die respektieren mich und finden cool, was wir machen“, sagt er durchaus stolz über die U9-Gruppe. Gerrit wiederum findet es toll, wie die 13-Jährigen in ihre Rolle hineinwachsen: „Die kriegen das gut hin.“

Die respektieren mich und finden cool, was wir machen.

Lasse Farwick

Derweil sitzt Lotta mit ihrem piratenartig um den Kopf gewickelten Tuch auf der Schaukel im Kita-Außengelände und erzählt von ihrem ungewohnten Rollenwechsel. Zu Hause und in der Schule ist sie ein Kind, hier in der Kita gehört sie wiederum für die Kinder in die Riege der Erzieherinnen und Erzieher. „Die wissen gar nicht, wie alt ich bin, und halten mich für eine Erwachsene“, sagt sie und lacht. Sie ist plötzlich „die Große“, von der die Kleinen auch erwarten, ihre vollgemachten Hosen zu wechseln. „Da war ich dann doch überfordert“, sagt Lotta. Sie holte lieber ihren Vater.

Engagement macht stark: Das kann auch Lotta unterschreiben – auch wenn sie es anders beschreibt. „Erst war ich aufgeregt“, erzählt sie „jetzt freue ich mich auf die Donnerstage und bin auch etwas stolz.“ Stolz, dass sie ihre anfängliche Aufregung überwunden hat, dass sie immer mehr Aufgaben übernimmt. Anfangs hatte sie Angst, Dinge falsch zu machen, erzählt sie. „Und dann mache ich sie und es geht.“ Und dann ist sie auch schon verschwunden. Ihre zweite Leidenschaft, das Theaterspielen, wartet auf sie.

Text: Petra Krimphove, Fotos: Thorsten Arendt