DRadio – ftd – taz – ZEIT: Lückenbüßer oder Stützen der Gesellschaft?

Besorgniserregende Trends im Bereich bürgerschaftlichen Engagements bemerkt Lisa Srikiow in der ZEIT vom 28.07.2011: “Müssen die Ehrenamtlichen dort anpacken, wo der Staat sich zurückzieht?”, fragt die Autorin in ihrem Artikel “Die Stützen der Gesellschaft” und nennt die Ersetzung Hauptamtlicher durch Freiwillige und die Monetarisierung des Ehrenamts. Zugleich verweist Srikiow auf die Pionierarbeit, die Ehrenamtliche seit jeher in der Sozialen Arbeit leisteten: Sie kümmerten sich zuerst um vernachlässigte Bereiche wie Jugendarbeit, Drogenbekämpfung oder Aids-Beratung, und daraus entstanden neue soziale Berufe. “Die Professionalisierung ehemaliger Ehrenämter zeigt, dass durch sie der Staat erst darauf aufmerksam wurde, wo genau Menschen Hilfe brauchen”, so Srikiow. “Dies ist der Kerngedanke des Ehrenamts – es soll keine Versorgungslücken schließen, schon gar nicht langfristig. Es gilt vielmehr, sie ausfindig zu machen. Das Ehrenamt kann dem Staat zeigen, wo die Missstände der Gesellschaft liegen, ihm beharrlich auf die Schulter tippen und ihm immer wieder vorführen, wo er versagt.”
“Wie ein Mantra geistert der Appell an die Bürger, Gutes zu tun, durch den öffentlichen Raum. Und von der ersten bis zur vierten Gewalt im Staat, den Medien, scheinen alle an einem Strang zu ziehen: Mehr Engagement muss her”, so Ulrike Köppchen in ihrer Reportage “Löst Wohltätigkeit den Sozialstaat ab?”, die Deutschlandradio Kultur am 22.08.2011 sendete. Köppchen setzt nach: “Ist das Hohelied des Engagements in Wirklichkeit der Schwanengesang des Sozialstaates? Soll der Bürger einfach kostenloser Lückenbüßer in der Sozialarbeit sein? Und inwieweit verschiebt sich damit das Kräfteverhältnis vom Sozialstaat in Richtung Wohltätigkeitsgesellschaft, in der der barmherzige Bürger bestimmt, wem geholfen wird und wem nicht?”
Auch in der Financial Times Deutschland sind die Bestimmbürger, Lückenbüßer und die “Grauzone, in der die Stiftungen aktiv sind”, ein Thema: “Wissenschaftler wie der Soziologe Stefan Selke, Professor für gesellschaftlichen Wandel an der Hochschule Furtwangen, warnen geradezu vor dem neuen Trend der Bürger”, schreibt Maike Rademaker am 08.08.2011 unter dem Titel “Die Lückenbüßer der Gesellschaft”. “‘Wenn sich das einspielt, wird es irgendwann zur Selbstverständlichkeit’, sagt er. Statt staatlicher und demokratisch legitimierter Ursachenbekämpfung existenzieller Probleme gebe es dann immer mehr einen ‘Pannendienst für die Gesellschaft’.” Der Artikel ist Teil einer Anfang August gestarteten, achtteiligen Serie der ftd über “Die Do-it-yourself-Bürger”.
In einem – kostenpflichtigen – Essay für die Financial Times Deutschland unter dem Titel “Früher nannte man es Propaganda” vertieft Stefan Selke am 25.08.2011 seine Kritik: “Der Weg in eine Freiwilligengesellschaft, in der bürgerschaftliches Engagement zunehmend zur Lösung struktureller Probleme instrumentalisiert wird, ist bereits vorgezeichnet: Freiwilligkeit etabliert sich immer verlässlicher, ersetzt schleichend nachhaltige Politik und dringt in besorgniserregendem Maße in existenzielle Lebensbereiche vor.”

, Ausgabe 115 August 2011