„Nicht zu religiös betrachten“

Open Source oder Software vom Tech-Giganten: Wie digitalisiert man eine Non-Profit-Organisation am besten? Ein Gespräch zwischen Philipp Berg von der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE), die gerne Open-Source-Entwicklung fördert, und Stefan Nährlich von der Stiftung Aktive Bürgerschaft, die gute Erfahrungen mit Microsoft macht.

bürgerAktiv: Herr Berg, die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt setzt, wenn sie Digitalisierung fördert, auf Open Source. Warum?

Philipp Berg: Wir zwingen niemanden, seine IT-Landschaft umzustellen, in der er arbeitet. Wenn jedoch Software weiterentwickelt oder neue Funktionen hinzugefügt werden sollen, bevorzugen wir Open Source. Zum Beispiel, wenn jemand für eine Mitgliederverwaltung, die bereits von 800 Organisationen genutzt wird, ein neues Feature benötigt und wir dessen Entwicklung unterstützen: Dann profitieren potenziell alle 800 Organisationen von dieser Unterstützung, da sie das Feature ebenfalls nutzen können. Dies ist aus meiner Sicht eine effizientere Verwendung von Steuergeldern, als wenn eine Organisation nur für ihre eigenen Bedürfnisse finanzielle Mittel erhält.

bürgerAktiv: Stefan Nährlich, die Stiftung Aktive Bürgerschaft, die ja auch Bürgerstiftungen in Sachen Digitalisierung berät, empfiehlt durchaus, mit einer kommerziellen sogenannten proprietären Software wie Microsoft zu arbeiten. Warum?

Stefan Nährlich: Zu Beginn der Corona-Pandemie ging es um schnelle Verfügbarkeit. Wir haben den Bürgerstiftungen daher empfohlen, bei ihrem Internet-Provider zu prüfen, ob dieser Microsoft (MS) 365 mit Teams anbietet. Microsoft ist zudem einigermaßen alternativlos, es gibt nicht so viele Anbieter von integrierten Systemen. Wir nutzen MS 365 auch selbst. Dabei zählte für uns, dass das System leistungsfähig ist, sofort einsatzbereit ist und dass die Kolleginnen und Kollegen mitziehen. Für gemeinnützige Organisationen wird es sehr kostengünstig angeboten. Wichtig für uns war auch, ob es den Anbieter in 20 Jahren noch gibt.

Philipp Berg: Auch hinter einem proprietären Tool stecken ganz, ganz viele kleine Open-Source-Lösungen. Wenn die kaputtgehen oder nicht weiterentwickelt werden, funktioniert auch das proprietäre Tool nicht mehr.

Stefan Nährlich: Wir nutzen – mit einem weinenden und einem lachenden Auge – auch Open-Source-Software, nämlich CiviCRM für unser Kontaktmanagement. Wir empfehlen das auch den Bürgerstiftungen. Damit es aber überhaupt läuft, zahlen wir über 1000 Euro im Jahr für Hosting und Support. Dazu kommen Personalkosten für die Kollegin, die mit dem Support zusammenarbeitet und uns intern unterstützt. Auch der Leistungsumfang hat noch Luft nach oben. Für die Entwicklung eines Plug-ins zum Schutz sensibler Daten haben wir zusammen mit vier anderen NPOs 5000 Euro gespendet. Nach zwei Jahren ist es aber immer noch nicht einsatzbereit. Das ist weniger eine Frage des Geldes als von verfügbaren Fachkräften. ITler verdienen in der Wirtschaft mehr und die Wirtschaft bedient zahlungskräftige Kunden. Und die setzen auf andere Lösungen. Um Projektdaten einzupflegen, haben wir etwas hinzuprogrammieren lassen. Das ist gut geworden, hat aber fast 10.000 Euro gekostet. Die Projektdatenbank wäre auch in der Microsoft-Welt mit Power BI zu realisieren gewesen, das Feature hätten wir auch mit anderen, die Microsoft 365 nutzen, geteilt. Die Möglichkeit einer öffentlichen Förderung gab es aber nicht.

„Wir sollten uns von ausländischen Strukturen nicht zu abhängig machen“

Philipp Berg: Gegen eine solche Förderung spricht, dass wir uns von ausländischen Strukturen nicht derart abhängig machen sollten, dass, wenn sie einmal wegbrechen, auch hier bei uns alles wegbricht. Wir haben bereits erlebt, wie ein Zusammenbruch dieser Strukturen im Energiesektor und in der Pharmaindustrie zu erheblichen Problemen geführt hat. Daher gibt es starke Argumente dafür, im digitalen Bereich wenigstens eine eigene europäische Souveränität anzustreben.

Stefan Nährlich: Das würde ich sogar unterschreiben. Aber Behörden und Ministerien setzen selbst im großen Maße Microsoft-Produkte ein. In einer Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke hat die Bundesregierung angegeben, 2022 über 200 Millionen Euro für Microsoft-Lizenzen ausgegeben zu haben. Open-Source spielt danach auch nur eine Nebenrolle. Ich kenne auch kein Unternehmen, das nicht mit Microsoft 365 arbeitet. Aber ausgerechnet die Zivilgesellschaft soll dann den hehren Zielen der Politik folgen, sich nicht abhängig zu machen?

Philipp Berg: Es ist tatsächlich problematisch, dass wir unsere Entwicklungen für die öffentliche Verwaltung immer nur ins Schaufenster stellen und nie in die produktive Anwendung bringen. Seit ein paar Jahren ist zum Beispiel die dPhoenix Suite als souveräner Arbeitsplatz für die öffentliche Verwaltung in der Erprobung und, soweit ich weiß, in Schleswig-Holstein auch produktiv im Einsatz. Und es gibt mit openDesk ein neues, ähnliches Modell. Ich bin sehr gespannt, was daraus wird, und vor allem, wie wir als Verwaltung da rankommen. Bei hundert Prozent Open Source weiß man, was funktioniert und was nicht. Wir würden so eine Arbeitsumgebung auch gerne nutzen. Im zivilgesellschaftlichen Sektor haben wir übrigens mal ein sehr ähnliches Projekt gefördert, die KolliCloud. Für etwa 30 Euro im Monat gibt es dort einen webbasierten Arbeitsplatz für Organisationen, wo alles Mögliche drin ist, Mailing, Cloud, Videotelefonie, und das Rechenzentrum ist klimaneutral. Da gibt es viel Bewegung.

bürgerAktiv: Aber da sind ja auch die Implementierungskosten …

Philipp Berg: Das ist ein Faktor, und da sind wir – jedenfalls bei großen Systemen wie CiviCRM – schnell im fünfstelligen Bereich. Aber als Fördermittelgeber sehe ich volkswirtschaftlich einen elementaren Unterschied, ob ich Geld in einen Implementierer aus Deutschland investiere und damit an jemanden, der Software hier für mich aufsetzt und sie hierzulande hostet, sodass hier jemand den Server wartet und Serviceleistungen erbringt, sodass also das Geld hier im Wirtschaftskreislauf landet – oder ob das Geld alles in die USA geht.

Stefan Nährlich: Das Geld geht ja nicht in die USA, nur weil mit Microsoft-Produkten entwickelt wird. Die zertifizierten Microsoft-Partner in Deutschland sind mittelständische Firmen aus Deutschland, sie zahlen hier ihre Gehälter und ihre Steuern. Da bleibt das Geld auch im Wirtschaftskreislauf.

bürgerAktiv: In den USA wird gerade von sehr finanzstarken Unternehmen Künstliche Intelligenz (KI) entwickelt. Hat Open Source denn eine Chance, da mitzuhalten?

Philipp Berg: Das ist das nächste große Problem: Wer hat die Daten, um diese Modelle zu trainieren? Und das bedeutet wiederum: Wem geben wir alle unsere Daten? Wenn wir immer deren Systeme nutzen, werden wir den Anschluss verlieren in Sachen europäisches Modell. Der Datenvorsprung der großen Konzerne ist irre. Aber vielleicht müssen wir das nicht aufholen, es gibt ja auch Anwendungsfälle unabhängig davon, etwa KI in der Krebsforschung.

Stefan Nährlich: Man kann beispielsweise Aleph Alpha in Heidelberg nur viel Erfolg wünschen. Meine Befürchtung ist aber, dass der Zug abgefahren ist, bevor sie mit ihrer KI so weit sind. OpenAI, Microsoft, Apple und Google, Amazon und Co. sind jetzt schon in der Fläche. Alle, die das bereits nutzen und damit im Großen und Ganzen gut zurechtkommen, werden nicht ohne Not oder starke Anreize wechseln.

Philipp Berg: Das beobachte ich schon länger und finde es schade, dass es so ist. Ich habe den Eindruck, dass wir sehr viele Menschen verlieren, wenn sie einmal eine schlechte Erfahrung gemacht haben – egal ob drei Jahre später alle Schwierigkeiten beseitigt sind und ein Tool nun gut funktioniert. Nachdem beispielsweise in München die Umstellung der öffentlichen Verwaltung auf Linux 2017 als gescheitert galt, galt das Thema Linux in der öffentlichen Verwaltung als verbrannt und wurde nicht mehr angefasst. Das ist nachvollziehbar, aber auch frustrierend. Wie kriegt man Menschen dazu, einem Projekt doch noch einmal eine Chance zu geben? Dinge entwickeln sich weiter!

Stefan Nährlich: Als Wirtschaftswissenschaftler würde ich sagen, Entwicklungen sind immer pfadabhängig. Wenn man sich vor drei Jahren beispielsweise entschieden hat, Webinare mit Teams zu machen, dann sind Wissen, Arbeitsprozesse, Anmeldungsverfahren eben seit drei Jahren auf Teams ausgerichtet. Das ändert man nicht, wenn es seinen Zweck erfüllt und zukunftsfähig ist.

bürgerAktiv: Vielleicht generiert die Non-Profit-Branche ja selbst eine vielversprechende Innovation. Auch Google hat mal klein angefangen.

Philipp Berg: Nach menschlichem Ermessen ist sehr schwer vorstellbar, dass ein Vorsprung, wie ihn Google jetzt hat, noch jemals eingeholt werden könnte. Andererseits dachte man das bei Yahoo auch … Ich halte es immer für möglich, dass eine technologische Innovation komplett durch die Decke geht – und dass sie überall auf der Welt entstehen kann. Mit Sicherheit gibt es auch in Deutschland viele Menschen, die Innovationen mit großem Potenzial arbeiten.

„Die Engagierten nutzen pragmatisch das, was es gibt“

bürgerAktiv: Was fange ich nun an mit den Überlegungen als Vorstand einer Stiftung oder eines Vereins? Microsoft oder Open Source? Entscheiden oder flexibel bleiben?

Stefan Nährlich: Die Engagierten nutzen pragmatisch das, was es gibt, um ein Stück weiterzukommen. Das ist die Realität. Wir wollen niemanden überreden oder belehren, in eine bestimmte Richtung zu gehen. In unserem Support für die Bürgerstiftungen in Deutschland unterstützen wir sie in dem, was sie machen mit den gängigen Lösungen, das sind Microsoft 365 und CiviCRM.

Philipp Berg: Ich kann mich mit dem Wort Pragmatismus an der Stelle auch anfreunden. In der DSEE setzen wir stark auf Wissensaustausch, Vernetzung, Erfahrungsaustausch, die Dinge nicht für sich selbst lösen zu wollen, in Beratung zu gehen, in Peer-Beratung zu gehen. Man darf dieses Thema nicht religiös betrachten. Die Frage ist immer, was ist für uns in unserem Kontext in der IT, die wir schon haben, mit den Menschen, mit denen wir arbeiten, die richtige Lösung? Digitalisierung ist nur ein Tool für die eigentliche Arbeit. So niedrigschwellig sollte man das auch betrachten und nicht zu hoch hängen.

Philipp Berg (Foto links) ist Teamleiter Digitalisierung & Innovation bei der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE).
Stefan Nährlich (Foto rechts) ist Geschäftsführer und Mitglied des Vorstands der Stiftung Aktive Bürgerschaft.
Fotos: André Hamann / Werner Kissel

Der Beitrag ist Teil des Fokus Digitalisierung – zwischen Hype und Herausforderung der bürgerAktiv – Nachrichten für Engagierte der Stiftung Aktive Bürgerschaft. Zum Fokus Digitalisierung – Zwischen Hype und Herausforderung

, Ausgabe 254 April 2024, Fokus