Gastkommentar: Ringen um die Rolle in der Gesellschaft – Eindrücke von der Konferenz der kanadischen Bürgerstiftungen

von Michael Alberg-Seberich, Toronto

Kanada ist aktuell in Feierlaune. Das Land im Norden des amerikanischen Kontinents begeht im Jahr 2017 seinen 150. Geburtstag als eigenständige Nation. Dieser Geburtstag wurde von den Bürgerstiftungen in Kanada auch auf deren Tagung vom 11. bis 13. Mai 2017 in Ottawa gefeiert. Was dabei überrascht ist, wie gedankenvoll der unabhängige Verband der Bürgerstiftungen Kanadas, die Community Foundations of Canada (CFC), das Jubiläum bestreitet. Die Bürgerstiftungen verstehen sich als Bewegung vor Ort, die aktiv zur Identität des Landes beitragen will.

In Kanada gibt es inzwischen mehr als 191 Bürgerstiftungen. Die älteste wurde 1921 in Winnipeg in der Prärieprovinz Manitoba gegründet. Neue Bürgerstiftungen heutzutage umfassen meist ganze ländliche Regionen – so bedient etwa die South Saskatchewan Community Foundation einen bestimmten Teil der Provinz, und die Haida Gwaii Community Futures umfasst eine Inselgruppe. Die CFC gehen davon aus, dass Bürgerstiftungen in Kanada im Jahr 2015 mehr als 215 Millionen CAN$ (rund 152 Millionen Euro) für das Engagement vor Ort zur Verfügung gestellt haben. Das Stiftungskapital der Bürgerstiftungen in Kanada betrug in dem Jahr 4,8 Milliarden CAN$ (rund 3,4 Milliarden Euro); dabei gibt es ein klares Gefälle zwischen den Bürgerstiftungen der kanadischen Großstädte, wie Vancouver, Toronto, Montreal oder Calgary und den anderen Regionen des Landes. In Zusammenarbeit mit der kanadischen Bundesregierung hat der Verband der kanadischen Bürgerstiftungen den „Canada 150 Fund“ aufgesetzt, um die Bürgergesellschaft vor Ort zu unterstützen. CFC selbst wurde vor 25 Jahren gegründet – ein weiteres Jubiläum, welches mehr als 700 Personen auf der alle zwei Jahre stattfindenden Tagung in Ottawa feierten.

Integration fordert die kanadische Gesellschaft heraus

Das Thema der Tagung war „Belonging“ („Zugehörigkeit“). Aus dem Ausland betrachtet, ist Kanada das Land, in dem Einwanderung, Integration und Bildung täglich gelingen, was verschiedenste OECD Rankings bestätigen. Doch die Bürgerstiftungen, am Puls in den Kommunen vor Ort, sehen sehr wohl Herausforderungen für sich als Institutionen und für die Gesellschaft insgesamt. Auf der Tagung forderte im Plenum die Senatorin Ratna Omidvar, selbst Einwanderin, den recht homogenen Personenkreis der Tagung dazu auf, in den eigenen Vorständen und Gremien die (kulturelle) Diversität des Landes widerzuspiegeln. In einem Workshop während der Tagung wurden Maßnahmenkataloge entwickelt, wie auf Einwanderer aktiv zugegangenen werden kann.

Der kanadische Journalist Desmond Cole erinnerte die Bürgerstiftungen an die vielen ungelösten Fragen in der kanadischen Gesellschaft: der Umgang mit Flüchtlingen, Asylbewerbern an der eigenen Grenze oder mit Gastarbeitern in der Landwirtschaft. Workshops der Tagung befassten sich dann auch mit Armutsbekämpfung, advokatischer Arbeit oder der Rolle von Bildung vor Ort. Der rote Faden der Tagung war die „reconciliation“ („Aussöhnung“) mit den Ureinwohnern (First Nations, Metis & Inuit) des Landes. Bürgerstiftungen suchen hier eine aktive Rolle, die auf der Tagung unter anderem die CFC-Vorstandsvorsitzende Victoria Grant, selbst Mitglied der Temagami First Nations, einforderte.

Mit “Vital Signs” Engagementziele identifizieren

Sehr zielführend für die kanadischen Bürgerstiftungen ist das Instrument der „Vital Signs“, was eine Vielzahl von Workshops auf der Tagung in Ottawa bestätigte. Vital Signs ist eine indikatorengestützte Datenerhebung zu Lebensqualität in einer Kommune. In Kanada wird sie von kleinen, großen, städtischen, ländlichen Bürgerstiftungen durchgeführt. Die Vital Signs ermöglichen den Bürgerstiftungen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, und nicht nur ihr finanzielles Engagement, sondern auch ihre Zeit, Kontakte und Kompetenzen zu fokussieren. Vital Signs ist ein Instrument, welches vielleicht auch für Bürgerstiftungen in Deutschland von Interesse ist.
Weitere Themen der Tagung, die alle kanadischen Bürgerstiftungen sehr beschäftigten, waren Fundraising, Evaluation der eigenen Arbeit – die Bürgerstiftung in Calgary in Alberta hat einen eigenen Grants Impact Manager – und Digitalisierung – der Software-Dschungel für Stiftungen scheint undurchdringbar. Es ging auch um Impact Investing: Die Bürgerstiftung in Hamilton in Ontario setzt konsequent auf Investments vor Ort.

Diese Themen beschäftigen Bürgerstiftungen und Philanthropie weltweit. Aus europäischer Sicht ist das Ringen, Suchen einer gesellschaftspolitischen Rolle der Bürgerstiftungen in Kanada von besonderem Interesse. Die Tagung in Ottawa hat unterstrichen, dass trotz der Stärke der Bürgerstiftungen in Kanada dies für sie kein einfacher Prozess ist. Diese Nachdenklichkeit, die Ernsthaftigkeit und die Reflexion der Herausforderungen begründen auch die Begeisterung, mit der die Bürgerstiftungen in Kanada den Geburtstag des Landes feiern.

Michael Alberg-Seberich hält sich aktuell als Mercator- und CKX-Canadian-Philanthropy-Fellow in Toronto auf. Er ist Geschäftsführer von Beyond Philanthropy, einer spezialisierten Beratung für Philanthropie, CSR und soziales Investieren. Darüber hinaus ist er geschäftsführender Gesellschafter der gemeinnützigen Plattform Active Philanthropy.

Kommentar von Michael Alberg-Seberich für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 178 – Mai 2017 vom 31.05.2017

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