Große Aufgaben für die Zivilgesellschaft

Von der Zivilgesellschaft wurde der Vertrag der Ampelkoalition wohlwollend aufgenommen. Nicht klar ist, ob die zivilgesellschaftlichen Gruppen gegenwärtig in der Lage sind, bei diesen großen Aufgaben einen substanziellen Beitrag zu liefern, meint Rudolf Speth.

Von Rudolf Speth

Der Vertrag der Ampelkoalition ist erstaunlich rasch und geräuschlos zustande gekommen. Von den Gruppen und Stimmen der Zivilgesellschaft ist er wohlwollend aufgenommen. Der Blick und die Erwartungen richten sich in der Regel auf die staatlichen Institutionen, die mehr für die Zivilgesellschaft tun und ihr das Leben erleichtern sollen.

Es fällt auf, dass von den drei Koalitionären die Erwartungen an die Zivilgesellschaft groß, vielleicht sogar zu groß sind. Und es wird deutlich, dass die Erwartungen ganz unterschiedlich verteilt sind. Es sind vor allem die Grünen, die sich von der Zivilgesellschaft einen Schub für ihre Anliegen erhoffen. Die FDP, die sich vollmundig als Freiheitspartei versteht, rechnet kaum mit der Unterstützung durch die Zivilgesellschaft. Bei den Themen, die die SPD in den Koalitionsvertrag eingebracht hat, haben zivilgesellschaftliche Gruppen kein großes Gewicht.

Ganz anders bei den Grünen. Die Wertschätzung, man kann auch von Überschätzung reden, kommt im Koalitionsvertrag prominent zum Ausdruck. Die Zivilgesellschaft ist für eine wertebasierte (Außen-) Politik zuständig, sie wird unverzichtbar bei den Themen gesellschaftlicher Zusammenhalt, Transparenz, Digitalisierung, Bildung, Kulturförderung, Menschen- und Bürgerrechten, Dialog mit den Nachbarn (Polen, Frankreich, USA, Westbalkan), Entwicklungszusammenarbeit, gleichwertigen Lebensverhältnissen, Antidiskriminierung, Forschungspolitik und Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt.

Der Zivilgesellschaft – wer immer das im Einzelnen ist – wird einiges abverlangt und zugetraut. Das wäre schön, wenn dafür auch die Voraussetzungen gegeben wären. Die Koalitionäre rechnen mit einer Zivilgesellschaft, für die sie herzliche wenig tun. Dreht man aber die Perspektive um, dann stellt sich sofort die Frage: sind die zivilgesellschaftlichen Gruppen überhaupt in der Lage, den geforderten Beitrag in diesen verschiedenen politischen Feldern zu erbringen. Man kann hier die wertebasierte Außenpolitik nehmen: Menschenrechte, Freiheitsrechte, Demokratie, Partizipation und Transparenz sind wichtige Bestandteile politischen Handelns. Jenseits der Frage, ob eine solche Politik konsistent dem politischen Handeln einer Regierung in der Mitte Europas zugrunde gelegt werden kann, stellt sich die noch dringlichere Frage, ob die zivilgesellschaftlichen Gruppen überhaupt in der Lage sind, eine solche Politik mit Augenmaß zu formulieren.

Ähnliches lässt sich bei den Themen gesellschaftlicher Zusammenhalt und gleichwertige Lebensverhältnisse beobachten. In beiden Bereichen wird die Regierung ohne die Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Gruppen nicht vorankommen, doch wie weit reicht die Kraft der Zivilgesellschaft, um Unterschiede der Lebensform, der wirtschaftlichen Kraft, der Kultur und viele andere aufsteigende Entwicklungen der Differenz wieder in Richtung eines gemeinsamen Bandes zu bringen?

Es ist insgesamt nicht klar, ob die zivilgesellschaftlichen Gruppen gegenwärtig in der Lage sind, bei diesen großen Aufgaben einen substanziellen Beitrag zu liefern. Notwendig ist es daher, sie besser auszustatten und ihnen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Es sind aber nicht allein die fehlenden Mittel, sondern auch die Strukturen und Einstellungen bei den zivilgesellschaftlichen Gruppen selbst, die verbessert werden müssen.

Kommentar von Dr. Rudolf Speth für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 228 – November Dezember 2021 vom 22.12.2021

Bitte beachten Sie auch die noch folgenden Kommentare von Dr. Holger Backhaus-Maul und Dr. Stefan Nährlich zu weiteren Aspekten des Koalitionsvertrages.

Kommentare und Analysen