Interview: „Der Zusammenhalt wird stärker werden“

Landauf, landab wird gegenwärtig der Niedergang des gesellschaftlichen Zusammenhalts diagnostiziert. Doch Prof. Dr. Nicole Deitelhoff, geschäftsführende Sprecherin des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), ist optimistisch, dass sich die Wahrnehmung wieder umkehrt. Dabei spielt auch das bürgerschaftliche Engagement eine Rolle.

von Dr. Stefan Nährlich (Stiftung Aktive Bürgerschaft)

Frau Prof. Deitelhoff, wie steht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland?

Das kommt darauf an, was die Vergleichsgröße ist: Besser oder schlechter im Vergleich zu vor fünf oder zehn Jahren oder besser oder schlechter im Vergleich zu anderen Ländern wie etwa Dänemark oder den USA?

Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist keine absolute Größe, sondern bemisst sich jeweils anders für eine konkrete Gesellschaft und für einen spezifischen Zeitpunkt und wird auch jeweils anders bewertet. Was für eine Gesellschaft ein starker Zusammenhalt, mag für die andere ein absolutes Minimum darstellen. Generell lässt sich sagen, dass Zusammenhalt ja zumeist nur dann überhaupt in unser Bewusstsein gerät, wenn er vermeintlich in die Krise gerät. Zusammenhalt wird beschworen und sein Schwinden beklagt. Wenn es in einer Gesellschaft gut läuft, dann wird er eigentlich gar nicht thematisiert. Er ist selbst vielleicht so etwas wie ein Krisenbegriff. Gehen wir danach, dann muss er in der Krise stecken, denn landauf, landab wird gegenwärtig sein Niedergang befürchtet oder schon bedauert.

Kann man den gesellschaftlichen Zusammenhalt messen? Wenn ja, was sind die wichtigsten Indikatoren?

Zusammenhalt ist ein komplexer Begriff. Er umfasst einerseits zunächst nur die Aussage, dass Mitglieder einer Gesellschaft über ihre vielfältigen Differenzen hinweg miteinander kooperieren und bis zu einem gewissen Grad solidarisch füreinander einstehen. Damit ist aber noch nicht gesagt, wie bzw. woran wir das messen können. Hier kommen substanzielle Konzeptionen von Zusammenhalt ins Spiel, die konkrete, oftmals theoretisch begründete Ideen beinhalten über die Quellen gesellschaftlichen Zusammenhalts. Manche verorten sie in substanziellen Gemeinsamkeiten zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft, wie kulturellen, religiösen oder ethnischen Merkmalen, andere sehen einen Sozialisationsprozess am Werk, der Gesellschaftsmitglieder auf einen Kranz gemeinsamer Werte und Prinzipien einschwört. Andere glauben, dass ein gewisses Wohlstandsniveau Bedingung für gelingenden Zusammenhalt ist, wieder andere sehen Verfahren, etwa demokratische Willensbildung am Werk. Je nachdem, worin die einzelnen Konzeptionen Zusammenhalt gründen wollen, messen sie ihn auch unterschiedlich: an der Wahlbeteiligung, an der Mitgliedschaft in Vereinen, an der Alphabetisierungsrate und Säuglingssterblichkeit, der Bereitschaft Steuern zu zahlen oder aber an der Qualität innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

Ist der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland heute größer als vor zehn oder 50 Jahren oder schlechter? Über welche Zeiträume lässt sich das sinnvoll beurteilen?

Das ist tatsächlich gar nicht so einfach zu beurteilen, weil so unterschiedliche Konzeptionen nebeneinander existieren und dann eben auch empirisch vermessen werden. Gehen wir aber nach politischen Debatten, dann leben wir gegenwärtig in Zeiten, in denen viele in dieser Gesellschaft den Zusammenhalt als geschwächt und generell als gefährdet ansehen. Für viele beginnt diese Phase spätestens Mitte der 2010er Jahre im Kontext von Migration und Flucht, als sich rechtspopulistische Bewegungen und Parteien etablierten und die Frage nach Zugehörigkeit zur Gesellschaft neu stellen wollen.

Zugleich ist die Debatte um die Gefährdung von gesellschaftlichem Zusammenhalt, die wir derzeit führen, aber nicht neu oder einzigartig. Sie kommt in regelmäßigen Abständen wieder auf, zumeist in gesellschaftlichen Umbruchssituationen – etwa in der Phase nach der deutschen Wiedervereinigung und der Fluchtbewegung aus den Balkankriegen, der globalen Finanzkrise in den 2000er Jahren oder jetzt in Zeiten von Corona. In diesen Phasen wird um Zugehörigkeit und Verteilungsfragen teils sehr erbittert gerungen und das erzeugt die Gefährdungswahrnehmung.

Ich will damit nicht sagen, dass die Gefährdung des Zusammenhalts „nur“ eine Wahrnehmungsfrage ist. Natürlich erleben wir auch Abschwächungen des Zusammenhalts, aber gesellschaftlich entscheidend ist die Thematisierung.

Was gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Je nachdem, woraus sich Zusammenhalt gründet, sind seine Gefährdungen zu beurteilen. Eine Gemeinschaft, die sich primär über gemeinsame Werte definiert, wird an Zusammenhalt verlieren, wenn diese Werte zunehmend diskreditiert werden oder aber sich die Gruppe in einem Ausmaß verändert, dass diese Werte keine tragfähige Basis mehr stellen. Gesellschaften, die sich über ein Bekenntnis zu demokratischen Verfahren und Prinzipien definieren, werden durch Krisen ihres politischen Systems wie Korruption und ähnliches besonders bedroht.

Es ist aber in den meisten modernen Gesellschaften nicht mehr nur eine Quelle, aus der sich der Zusammenhalt speist, sondern es sind eher mehrere, die sich wechselseitig stützen. Kommt es zu Krisen oder negativen Entwicklungen in mehreren dieser Quellen, dann schwächt das den Zusammenhalt.

Was sind Ihrer Meinung nach die drei wichtigsten Ansätze, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken?

Genau das gleiche wie oben: Wir bewirtschaften die Quellen des Zusammenhalts. Das heißt, wir bewahren demokratische Prozesse und Verfahren, fordern Auseinandersetzungen über Werte und Vorstellungen ein und fördern vielfältige Institutionen der gesellschaftlichen Kooperation (Vereine, Bürgerinitiativen etc.). Das sind aus meiner Sicht drei der zentralen Ansätze.

Welche Rolle spielen bürgerschaftliches Engagement und gemeinnützige Organisationen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Beide spielen eine gewichtige Rolle, weil sie gesellschaftliche Kooperationsformen darstellen, durch die gesellschaftliche Austauschprozesse entstehen, soziale Netzwerke auch über soziale Milieus hinweg etabliert werden und Vertrauen in die anderen Mitglieder einer Gesellschaft bestärkt wird.

Ihre Prognose für die Zukunft: Wie wird sich der gesellschaftliche Zusammenhalt in den nächsten zehn Jahren entwickeln?

Die typische Entwicklung dürfte sein, dass mit dem Abflachen der Pandemieentwicklung und der Bearbeitung ihrer sozioökonomischen Folgen – und unter der Bedingung, dass keine neuen massiven Krisenphänomene auftreten – der Zusammenhalt wieder stärker wird oder doch zumindest so wahrgenommen wird.

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff ist seit 2009 Professorin für Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt. Seit 2016 ist sie Direktorin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Im Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) leitet sie den Ausschuss Transfer und ist unter anderem Mitglied des Institutsrats. Sie hat Politikwissenschaft, Rechtswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften studiert.

Das FGZ ist ein Verbund aus elf wissenschaftlichen Instituten und in zehn Bundesländern angesiedelt. Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und soll Vorschläge zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen der Gegenwart erarbeiten.

Das Interview wurde geführt am 22. September 2021 für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 226 – September 2021 vom 30.09.2021

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