Kommentar: Ärzte ohne Geld?

von Stefan Nährlich

„Aus Protest gegen die Abschottungspolitik der Europäischen Union wird Ärzte ohne Grenzen keine Gelder mehr bei der EU und ihren Mitgliedstaaten beantragen.“ Dies hat die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen am 17. Juni 2016 öffentlich bekanntgegeben. Auf mehr als 50 Millionen Euro verzichtet die gemeinnützige Organisation dabei. Das klingt nach gewaltig viel, ist aber vielmehr nur relativ gewaltig. Denn der aktuelle International Financial Reports von Ärzte ohne Grenzen für 2015 weist für die 21 großen und größeren Ländergesellschaften Gesamteinnahmen von 1,44 Milliarden Euro aus. Die Nichtregierungsorganisation ist ein Big Player – ein wirklich großer Akteur – und offensichtlich so professionell wie konsequent.

Gemeinnützige Organisationen sind in den allermeisten Fällen auch Weltanschauungsorganisationen, ihre konkrete Tätigkeit letztlich Mittel zum ideellen Zweck. Im Alltag wird das oft in den Hintergrund gedrängt, doch manchmal bricht es auch wieder hervor. Oder wird hervorgebrochen. Denn auch das gehört zur Professionalität und Konsequenz: Der Verzicht auf die 50 Millionen Euro EU-Mittel – wo immer der Ursprung der Entscheidung war – wurde in seinen möglichen Konsequenzen sicher auch kühl und klug analysiert. Und in der Tat spricht auch einiges in rationaler Hinsicht für den Verzicht auf diese Mittel: Der Geldgeber verhält sich inkompatibel zum Wertesystem des Empfängers, was zu Vertrauensverlusten auf Seiten der Hauptgeldgeber führen könnte. Dies sind bei Ärzte ohne Grenzen die privaten Spender, von denen 90 Prozent der Finanzmittel kommen.

Öffentliche Mittel sind eine vergleichsweise teure Finanzierung. Sie ziehen einen hohen bürokratischen Verwendungs- und Abrechnungsaufwand nach sich und sind in ihrer Verwendungsfähigkeit nicht so flexibel einsetzbar wie viele Spenden. Zudem ist die Zahlungsmoral mancher öffentlicher Institutionen nicht immer so hoch wie der medial vermittelte Anspruch ihrer Dienstherren.
Schließlich steht Ärzte ohne Grenzen finanziell auf soliden Füßen. In den letzten Jahren sind die Einnahmen aus privaten Spenden deutlich gestiegen, „konzernweit“ gibt es gegenwärtig einen Überschuss. Wann also Kante zeigen, wenn nicht jetzt, möchte man sagen. Oder muss man sich Moral erst einmal leisten können?

Die Entscheidung von Ärzte ohne Grenzen verweist auf ein grundlegendes Dilemma. Neben dem Staat setzen sich auch gemeinnützige Organisationen für Gemeinwohlbelange ein. Ihre Arbeit ist nicht weniger wirkungsvoll, sinnvoll und notwendig als staatliches Handeln. Unterstützt der Staat die Arbeit gemeinnütziger Organisationen durch Steuergelder, stellt er nicht zu Unrecht gewisse Anforderungen an die Mittelverwendung. Sich – wie im Fall von Ärzte ohne Grenzen – von der Annahme dieser Mittel in bestimmten Situationen auch trennen zu können, gelingt nicht allen.

In einigen Ländern Osteuropas hat man deshalb Ende der 1990er Jahre einen Weg geschaffen, die Einnahmeseite gemeinnütziger Organisationen zu stärken, ohne den Staat aus der Verantwortung zu entlassen, und gleichzeitig seine Einflussnahme zu begrenzen. Die Steuerzahler können dort ein oder zwei Prozent ihrer Einkommen- bzw. Lohnsteuer direkt einer gemeinnützigen Organisation ihrer Wahl zukommen lassen. Ein Hinweis auf der Steuererklärung reicht aus. Ein Ansatz, über den zu diskutieren sich auch in Deutschland lohnen würde.

Kommentar von Dr. Stefan Nährlich für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 168 – Juni 2016 vom 30.06.2016

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