Kommentar: Der Nährboden der Demokratie

von Rudolf Speth

Die Allianz “Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ macht auf ein gravierendes Problem aufmerksam: Die Finanzämter können einer Organisation den Status der Gemeinnützigkeit aberkennen, wenn diese sich politisch äußert und ‒ in der Auffassung der Finanzbehörden ‒ sich an der politischen Willensbildung beteiligt. Deshalb schlägt die Allianz vor, das Gemeinnützigkeitsrecht, und darin die Abgabenordnung, so zu verändern, dass die politische Betätigung auch als gemeinnütziger Zweck anerkannt wird.

Gegenwärtig droht beispielsweise Umweltorganisationen der Entzug der Gemeinnützigkeit, wenn sie zu Demonstrationen aufrufen. Von den Finanzämtern wird auch nicht gerne gesehen, wenn der „Schutz der Menschenrechte“ als Organisationszweck aufgelistet und damit die Gemeinnützigkeit beantragt wird. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies: Gemeinnützige Organisationen dürfen sich nicht an der politischen Willensbildung beteiligen.

Die politische Willensbildung ist ein Begriff aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik. In Artikel 21 heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Dieser Satz beinhaltet aber auch: Es gibt noch andere Organisationen, die bei der politischen Willensbildung mitwirken. Die vielen Lobbyorganisationen sind dafür ein Beleg. Zudem kann aus diesem Satz nicht herausgelesen werden, dass die Parteien ein Monopol auf die politische Willensbildung hätten. Vielmehr ist es so, dass die Parteien die Gesellschaft längst nicht mehr in der gesamten Breite repräsentieren. Sie haben immer weniger Mitglieder, und die verbleibenden Parteimitglieder kommen immer häufiger aus der Mittel- und Oberschicht. Das dadurch entstehende Problem kann auch nicht durch verstärktes Lobbying ausgeglichen werden, im Gegenteil, es wird dadurch verschärft.

Um die Vielfalt der Gesellschaft auch in der politischen Willensbildung zu Gehör zu bringen, ist es daher notwendig, dass es mehr Organisationen und Gruppen gibt, die ihre Stimme erheben. Dies können nur zivilgesellschaftliche Organisationen leisten. Die Liste der ge-meinnützigen Zwecke in der Abgabenordnung muss schon allein deshalb erweitert werden, um die Substanz der Demokratie zu erhalten. Den Parteien bleiben nach wie vor zentrale Aufgaben. Sie beteiligen sich an Wahlen, wählen das politische Personal aus und qualifizieren es, und sie sorgen dafür, dass politische Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen schmälern diese Rolle nicht, aber ihnen wächst eine wichtige Aufgabe zu: Sie machen auf Themen und Probleme aufmerksam und schaffen einen Diskussions- und Reflexionsraum. Sie sind der eigentliche Nährboden der Demokratie. Dafür sollen sie Unterstützung finden. Das Privileg der Gemeinnützigkeit ist die angemessene Form, ihre politische Tätigkeit zu würdigen.

Kommentar von Dr. Rudolf Speth für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft – Juli 2015 vom 31.07.2015

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