Kommentar: Die „Alleskönner“ – Mythos Wirtschaft

von Holger Backhaus-Maul

Die „deutsche“ Wirtschaft und ihre Unternehmen gelten mittlerweile vielerorts als Alleskönner. Sie sind eine geradezu ideale Projektionsfläche für Verantwortungszuschreibungen und zugleich für Schuldzuweisungen bei angeblich fehlender Verantwortungsbereitschaft. Letzteres scheint sich zunehmender Beliebtheit zu erfreuen und bringt bemerkenswerte Koalitionen hervor, die die Verantwortung von Unternehmen gegenüber Geflüchteten fordern und von der CDU einer Julia Klöckner bis hin zu Bernd Riexingers Linken reichen.

Zu dieser Mythenbildung tragen Unternehmen ihren Teil bei. Kaum hatte die Bundeskanzlerin ihr mittlerweile schon legendäres „Wir schaffen das“ verkündet, bekannten namhafte deutsche Unternehmen quasi ohne Atempause „Wir wollen das“. Fachkräftemangel, unbesetzte Ausbildungsstellen und demografischer Wandel wurden reflexartig als Begründungen aufgerufen.

Aber meinten Bundeskanzlerin und Unternehmensvertreter dasselbe? Während die Erstgenannte von Flüchtlingen sprach, erhofften sich die anderen durch die Zuwanderung gut ausgebildeter und qualifizierter Arbeitnehmer passgenaue und loyale Mitarbeitende, die die hausgemachte Ausbildungs- und Qualifizierungslücke wie im Handumdrehen schließen würden. So sprach etwa Daimler-Chef Dieter Zetsche im vergangenen Herbst davon, dass die, die kämen, größtenteils jung, gut ausgebildet und hoch motiviert seien – ein „Wirtschaftswunder“ schien ihm in greifbarer Nähe.

Nicht die ersehnten Zuwanderer

Doch in der Realität behielt die Kanzlerin Recht: Die Geflüchteten sind nicht die ersehnten arbeitsmarktkompatiblen Zuwanderer, sondern ihre Integration erfordert viel Zeit und erhebliche öffentliche Ressourcen sowie Anstrengungen und Leidenschaften auf allen Seiten. Hier kommen nun wieder die Erwartungen an die angeblich omnipotenten deutschen Unternehmen ins Spiel. „Wer nicht hören will, muss fühlen“, scheint die aktuelle Strategie der Regierung zu lauten – das könnte man jedenfalls meinen, wenn im September der Bundespräsident Unternehmen besucht, um ihr Engagement zu loben, und die Bundeskanzlerin sich eine Handvoll Vertreter von Unternehmen, darunter von Siemens, Evonik, Opel, RWE und VW, ins Bundeskanzleramt „einbestellt“, um mit ihnen über ihre Beiträge zur Integration von Flüchtlingen in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu sprechen.
Erwartungen enttäuscht

Denn die großen Erwartungen haben die vermeintlichen Alleskönner enttäuscht: Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit werden Ende 2016 rund 1,3 Millionen Geflüchtete in Deutschland leben. Bis Ende Juli hatten, wie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen war, die 30 größten deutschen Unternehmen aber nur 54 Flüchtlinge eingestellt, davon 50 bei der Deutschen Post und je zwei bei SAP und Merck! Gleichwohl wurden in DAX-Unternehmen über 300 Ausbildungs- und knapp 2700 Praktikumsplätze geschaffen, von denen jedoch nur ein Bruchteil besetzt werden konnte. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass kleine und mittlere Unternehmen die große Mehrzahl der Unternehmen in Deutschland stellt und dass sie als besonders engagiert gelten. So kam das Institut der deutschen Wirtschaft Anfang dieses Jahres in einer Befragung von 600 mittelständischen Unternehmen zu dem wissenschaftlich nicht überraschenden Ergebnis, dass sich drei Viertel von ihnen nach eigenen Aussagen mit Spenden, Ausbildungs- und Arbeitsplatzangeboten für Flüchtlinge engagieren würden. Daten über die Zahl der geschaffenen und besetzten Ausbildungs- und Arbeitsplätze wurden leider nicht veröffentlicht.

Gefragt sind Staat und Gesellschaft

Unter dem Strich belegen die Zahlen: Eine schlichte Verantwortungszuweisung an Unternehmen ist zu kurz gedacht. Bei der Integration von Geflüchteten sind zunächst nicht Unternehmen, sondern Staat und Gesellschaft gefragt. Es geht um Bildung in allen Varianten und es geht um die gesellschaftliche Integration der Geflüchteten. Im Mittelpunkt stehen dabei die öffentliche Schul-, Aus- und Weiterbildung, der Erwerb von Sprachkompetenzen und die Entwicklung eines grundständigen Verständnisses der deutschen Kultur – von der Bademode bis zur Esskultur. Nicht zuletzt gilt es, den aufenthaltsrechtlichen Status von Geflüchteten individuell zu regeln sowie Zeugnisse und Bildungsabschlüsse der Herkunftsländer anzuerkennen. Für die Mehrzahl der Geflüchteten geht es erst mittelfristig – in einem zweiten Schritt – um Zugänge in den Erwerbsarbeitsmarkt. Die anspruchsvolle und umfassende Verantwortung für Geflüchtete liegt damit in den nächsten Jahren nach wie vor in erster Linie bei Politik und Gesellschaft.

Kommentar von Dr. Holger Backhaus-Maul für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 170 – August 2016 vom 31.08.2016

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