Kommentar: Ein Ausdruck von Vertrauen – Bürgerschaftliches Engagement in Zeiten des Populismus

von Paul Nolte

Das Gespenst des Populismus geht um. In vielen europäischen Ländern, in Donald Trumps Amerika, seit etlichen Jahren auch in Deutschland fordern populistische und nationalistische Bewegungen nicht nur die etablierten Parteien und den klassischen Politikbetrieb heraus. Sie stellen auch Fragen an die Zivilgesellschaft, an das bürgerschaftliche Engagement vor Ort. Sind Populisten die engagierteren, die aktiveren Bürger? Immerhin behaupten sie, für das Volk zu sprechen, für die normalen Menschen und ihre Sorgen, die von den Eliten, vom wirtschaftlichen und politischen Establishment längst nicht mehr gehört würden. Zeigt es denen da oben! Verdrängt nicht die Wahrheiten, die offen zutage liegen: So viele Flüchtlinge können wir nicht verkraften, sie gefährden die Sorge für das eigene Volk. In der Europäischen Union zahlen wir nur drauf und haben nichts davon. Und überhaupt: Die da oben handeln gegen die Interessen der Bürgerinnen und Bürger!

So reden und denken die Populisten. Hätten sie recht, müsste der Populismus eine eindrucksvolle Bürgerbewegung an der Basis, landauf landab in Dörfern und Städten gebildet haben. Doch wo ist diese neue Bürgerbewegung? Fehlanzeige, wohin man auch schaut, nicht nur in Deutschland. Wenn’s hoch kommt, zeigen sie Gesicht auf einer Demonstration, wie in der Hochphase der „Pegida“-Proteste 2014/15. Meist aber handeln Populisten für sich allein: mit einem Kreuzchen für die entsprechenden Parteien als „Denkzettel“ in der Wahlkabine; jammernd und beleidigend in den sozialen Netzwerken. Statt sich mit ihren Nachbarn für die konkrete gute Sache zusammenzutun, laufen sie charismatischen Führern hinterher und beklagen ihr eigenes Schicksal.

Seltsam hermetisch gedachtes Kollektiv

Was also läuft falsch bei den selbsternannten Anwälten des Volkes? Mit der Berufung auf das Volk fangen die Probleme schon an: Nicht um den konkreten Menschen mit seinen alltäglichen Sorgen, nicht um das Individuum in einer schwierigen Lebenslage geht es den Populisten. Ihnen schwebt die Rettung des ganzen „Volkes“ vor, eines seltsam hermetisch gedachten Kollektivverbands, dessen Gesamtinteresse von den Eliten ignoriert und, schlimmer noch, von äußeren Eindringlingen im Kern gefährdet wird: Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe oder Religion, Menschen auf der Flucht, Menschen anderer sexueller Orientierung. Das „Volk“, so umfassend das zunächst klingt, sind nämlich gar nicht alle Menschen in einer Gesellschaft, in einer Kleinstadt, in einem Stadtquartier. Die Anderen und die Fremden gehören nicht dazu. Doch häufig sind die Anderen und Fremden zugleich die Schwächeren – diejenigen, die der Unterstützung und des bürgerschaftlichen Engagements am meisten bedürfen. Statt sich für sie und mit ihnen zu engagieren, werden sie zu Sündenböcken für das eigene Schicksal gemacht.

Auch in anderer Hinsicht ist Populismus gerade das Gegenteil von aktiver Bürgerschaft. Bürgerschaftliches Engagement ist Ausdruck von Vertrauen ebenso, wie es Vertrauen zwischen Menschen neu herstellt. Um etwas mit anderen und für andere zu tun, brauche ich Vertrauen in mich selbst, vor allem aber: Vertrauen, dass gemeinsames Handeln stärker macht, und dass solches Handeln Erfolg haben kann. Hier ist eine syrische Familie ohne Wohnung; da fehlt es in einer Schule an Unterstützung für ärmere Kinder; dort verfällt ein Gebäude, das doch gut ein Kulturzentrum werden könnte: In solchen Situationen vermag der Einzelne wenig, und zugleich ist die Lösung nicht außer Reichweite – wir können an ihr mitwirken und sie vor Ort erleben, während die Populisten nebenan sich noch über die unfähigen Eliten und die volksschädlichen Fremden erregen.

Das wichtigste Grundkapital der Bürgergesellschaft

Es gibt viele Versuche, den neuen Populismus zu definieren. Einer seiner gemeinsamen Nenner ist der fundamentale Verlust von Vertrauen. Populisten haben kein Vertrauen in die eigene Stärke – und schlimmer noch: Sie misstrauen dem anderen Menschen, der in ihrem Weltbild immer Böses im Schilde führt, ob als Ministerpräsident oder als Migrantin. Vertrauen aber ist das wichtigste Grundkapital der Bürgergesellschaft. Es bildet sich und vermehrt sich, wenn Menschen sich aufeinander einlassen, einander ins Gesicht sehen und zusammen etwas unternehmen. Solches Sozialkapital ist dann am wertvollsten, wenn es Brücken bildet zwischen unterschiedlicher Herkunft, Lebensweise und Weltanschauung, wenn wir uns also nicht nur mit Menschen zusammentun, die genauso aussehen und leben und denken wie wir selber.

Deshalb ist und will eine aktive Bürgergesellschaft nicht nur etwas ganz anderes als der Populismus. Sondern sie ist auch selbst eines der besten Mittel gegen den Populismus: ein Mittel gegen den Vertrauensverlust und den Hass, der daraus erwachsen kann; ein Mittel gegen die Spaltung der Gesellschaft in Angehörige und Feinde des „Volkes“. Dass die Bäume der populistischen Verführung in Deutschland nicht in den Himmel gewachsen sind, liegt nicht nur an der täppischen Dummheit mancher ihrer Rattenfänger oder an der Nähe zu rechtsextremen, ja nationalsozialistischen Einstellungen, die in ihrer Häufung kein unglücklicher Zufall sind. Es liegt auch an der Stärke der Bürgergesellschaft, die wie eine Immunisierung wirkt und zugleich die Demokratie ungleich wirkungsvoller erneuern kann als der klägliche populistische Appell an den Willen des Volkes.

Kommentar von Prof. Dr. Paul Nolte für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 182 – September 2017 vom 29.09.2017

Prof. Dr. Paul Nolte ist seit 2005 Professor für Neuere Geschichte, Schwerpunkt Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Er studierte Geschichtswissenschaft und Soziologie, promovierte 1993 und habilitierte sich 1999 in Neuerer Geschichte in Bielefeld. Bevor er nach Berlin kam, war er vier Jahre lang Professor an der International University Bremen (Jacobs University).

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