Kommentar: Glaubwürdigkeit gefragt

von Holger Backhaus-Maul

Früher haben Volksparteien Politik gemacht, Unternehmen wirtschaftlich gehandelt und Bürger regelmäßig ihre Stimmen abgegeben. So zumindest die geschönte Erzählung über die ordentliche Aufgabenteilung zwischen Politik, Wirtschaft und Bürgern in einer Vergangenheit, in der Bürgerprotest allenfalls als störendes Rauschen wahrgenommen wurde. Diese einfach geordnete Welt gibt es nicht mehr. Die Konturen gesellschaftlicher Verantwortungsteilung verschwimmen, werden unübersichtlich und sind entgrenzt. Und tatsächlich: Ein Drittel der Bürger in Deutschland erwartet von Unternehmen eine gesellschaftspolitische Positionierung, so das Ergebnis einer aktuellen Onlinebefragung, die das Befragungsinstitut CIVEY und die Kommunikationsagentur P│KOM soeben veröffentlicht haben.

Der Befragung zufolge möchten 31,4 Prozent der Bürger, dass Unternehmen in der Öffentlichkeit eine politische Haltung einnehmen. Überdurchschnittlich häufig äußern jüngere und mittelalte, gebildete und im Mitte-Links-Spektrum zu verortende Menschen diese Erwartung. Gleichzeitig sieht aber eine überwiegend ältere und im Mitte-Rechts-Spektrum zu verortende Mehrheit (58,6 Prozent) Unternehmen zur gesellschaftspolitischen Neutralität verpflichtet.

Politischer als vermutet

Eine satte Mehrheit zugunsten einer gesellschaftspolitischen Enthaltsamkeit von Unternehmen – könnte man meinen; aber 39,4 Prozent aller Befragten würden die Produkte eines Unternehmens häufiger kaufen, verträte es öffentlich eine gesellschaftspolitische Position, die sie teilen. Und zwei Drittel – 67,3 Prozent – haben schon einmal Unternehmen und deren Produkte aus politischen Gründen boykottiert. Die Mehrheitsmeinung der Bürger erscheint so im konkreten Handeln gesellschaftspolitischer als zunächst vermutet. Besondere Aufmerksamkeit aber verdient das erstgenannte Drittel, das von Unternehmen ausdrücklich eine gesellschaftspolitische Positionierung erwartet. Aufgrund von Alter, Bildung, Kaufkraft und politischer Handlungsfähigkeit kommt ihm in „normalen Zeiten“ eine Schlüsselrolle in der öffentlichen Meinungsbildung zu. Die dezidierte Erwartung dieser Bürger an eine gesellschaftspolitische Positionierung von Unternehmen ist richtungweisend.

Der Einstellungswandel in der Bevölkerung ist für Unternehmen folgenreich. Besonderen Risiken sind dabei Unternehmen ausgesetzt, die gesellschaftliche Verantwortung von sich weisen oder schlicht Staat und Bürgern überlassen. Die Beispiele liegen auf der Hand: Unternehmen der Autoindustrie, Atomenergiekonzerne sowie Unternehmen der Finanzwirtschaft, um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen, in denen Unternehmen dreist dem Staat und letztlich Bürgern ihre wirtschaftlichen Risiken übereignet haben. Aber es gibt auch Beispiele einer erfolgreichen gesellschaftspolitischen Positionierung von kleinen, mittleren und großen Unternehmen, die sich für ökologische und soziale Standards in ihrer Lieferkette, für eine gesteuerte Zuwanderung und die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen sowie eine plurale und offene Gesellschaft einsetzen.

Angesichts der Erwartungen von Bürgern an Unternehmen wären Unternehmen spätestens jetzt gut beraten, wohlüberlegt eine gesellschaftspolitische Positionierung vorzunehmen, die nicht nur von Kunden, sondern von wichtigen Stakeholdergruppen des Unternehmens geteilt wird und vor allem öffentlich glaubwürdig ist. Auf keinen Fall aber sind Lobbyismus und der Einsatz von PR-Agenturen hinreichende Antworten auf wachsende gesellschaftspolitische Anforderungen von Bürgern an Unternehmen.

Kommentar von Dr. Holger Backhaus-Maul für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 194 – Oktober 2018 vom 31.10.2018

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