Kommentar: Im selben Boot – Gesellschaftliche Teilhabe von Engagierten und Geflüchteten

von Holger Backhaus-Maul

„Simsala BIM“ in Zeiten von Flucht und Zuwanderung: Innerhalb kürzester Zeit – quasi herbeigezaubert – ist das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin (BIM) zu einem der vielversprechendsten neuen Forschungsinstitute in Deutschland geworden. Soeben hat das Institut seinen umfangreichen Forschungsbericht („Solidarität im Wandel?“) vorgelegt, der einen interessanten Überblick über die Breite und Tiefe der Untersuchungen des BIM zu Fragen von Integration und Migration gibt. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei zwei aufeinander aufbauende quantitative Studien zur ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit aus den Jahren 2015 und 2016, die jetzt mit einer ergänzenden qualitativen Teilstudie über die Vorstellungen und Erfahrungen von Engagierten in Flüchtlingsinitiativen komplettiert wurden.

Für die qualitative Teilstudie wurden Gruppen- und Einzelinterviews mit insgesamt 62 Engagierten aus 12 Flüchtlingsinitiativen in Berlin, Brandenburg und Sachsen geführt. Auf den ersten Blick begrenzen die enge sozialräumliche Verteilung der Interviews und deren geringe Anzahl die Aussagekraft der qualitativen Teilstudie. Tatsächlich aber werden in der Teilstudie vertiefend Fragen untersucht, die in den beiden vorhergehenden, aufeinander aufbauenden quantitativen Studien zu ehrenamtlicher Flüchtlingsarbeit in Deutschland aus den Jahren 2015 und 2016 aufgeworfen wurden. Allein für die Wiederholungsbefragung wurden im November und Dezember 2015 insgesamt 2.291 Personen aus einer – wohlgemerkt nicht repräsentativen – Stichprobe befragt. Mit der nunmehr kompletten dreiteiligen Gesamtstudie sollen, so die Forscherinnen und Forscher, empirische Befunde vorgelegt werden, die politischen Entscheidern in Staat und Kommunen sowie Initiativen, Vereinen und Verbänden der Zivilgesellschaft ein wissensbasiertes Entscheiden ermöglichen.

Ertragreiche Forschung

Die Gesamtstudie nimmt einerseits Bezug auf die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegebenen Freiwilligensurveys, die kontinuierlich alle fünf Jahre durchgeführt wurden (leider wurde diese wegweisende und einmalige Dauerbeobachtung jetzt durch das federführende Deutsche Zentrum für Altersfragen (DZA) anhand von neu kreierten engagementpolitischen Vorstellungen und Begrifflichkeiten ein für alle Mal beendet). Andererseits erzeugt die Gesamtstudie aus der Zusammenschau ihrer Teilstudien selbst wertvolle Erkenntnisse zur ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit und den sich dort verstetigenden Trends. Der Vergleich aus quantitativer Erst- und Wiederholungsbefragung sowie die Bezugnahme auf die aktuelle qualitative Studie erweist sich als ausgesprochen ertragreich:

  • der Umfang des Engagements – gemessen in Stunden – ist relativ hoch; so leistet ein Viertel der Befragten mehr als zehn Stunden Engagement pro Woche;
  • drei Viertel der Engagierten sind weiblich, bei den unter 50-Jährigen sogar über 80 Prozent; auf Seiten der Engagierten kommen nach wie vor tradierte Geschlechterrollen zum Ausdruck, die zugleich aber an Bedeutung verlieren;
  • annähernd drei Viertel der Befragten sagen aus, dass sie ihr Engagement erfüllt; bemerkenswerte 67 Prozent der Befragten geben an, von ihrem Engagement nicht frustriert zu sein; Wut und Frust empfinden Engagierte vielmehr gegenüber Verwaltung und Politik;
  • fast alle Befragten (97 Prozent) wollen mit ihrem Engagement Gesellschaft mitgestalten; im Kern sorgen sich die Engagierten um das Gemeinwesen, das sie mit ihrem Handeln aktiv mitgestalten wollen;
  • das Engagement geschieht in der Regel spontan und proaktiv;
  • die wichtigsten Organisationsformen des Engagements sind selbstorganisierte Initiativen und Projekte.

Die Gesamtstudie kann – auch wenn die Befunde nicht repräsentativ und die Interviewzahlen gering sind – als eine der Erfolgsgeschichten des spontanen, selbstorganisierten und leistungsstarken Bürgerengagements der vergangenen Jahre und Jahrzehnte gelesen werden.

Dicke Bretter bohren

Nichtsdestotrotz – so die „Forderungen“ der Gesamtstudie – steht jetzt das Bohren „dicker Bretter“ (Max Weber) von Staat und Kommunalverwaltungen sowie (Wohlfahrts-)Verbänden und Vereinen auf der gemeinsamen politischen Agenda sowohl von Geflüchteten als auch von Engagierten. Denn:

  • die gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten ist eine Daueraufgabe;
  • die Integration der Anliegen und Bedarfe von Geflüchteten erfordern einen Wandel traditionsbewusster deutscher (Wohlfahrts-)Verbände und Vereine sowie sozialer Einrichtungen und Dienste: die Erfahrungen und Erlebnisse sowie die Vorstellungen und Werte Geflüchteter sind zu berücksichtigen und ihnen sind organisationale Mitgestaltungs- und Mitentscheidungsmöglichkeiten zu eröffnen; infolgedessen ist ein tiefgreifender Wandel deutscher Non-Profit-Organisationen zu erwarten, der weit über eine bloße „interkulturelle Öffnung“ hinausgehen wird;
  • die Erfahrungen, Kompetenzen und Anliegen von Engagierten trafen und treffen in Staat und Kommunalverwaltungen immer wieder auf Skepsis und auch Zurückweisung; vielerorts waren es insbesondere in der Anfangszeit Engagierte, die ausbleibendes staatliches und kommunales Handeln spontan und flexibel mehr als kompensiert haben.

So werden Engagement und Flucht zur Herausforderung für etablierte Organisationen in Staat, Kommunen und Zivilgesellschaft. Dabei geht es um weit mehr als die Beschleunigung bürokratischer Verfahren oder den Abbau von Sprachbarrieren: Engagierte und Geflüchtete fordern quasi gemeinsam routinegewöhnte deutsche Organisationen heraus, sich in einer globalisierten Welt zu verorten und sich damit grundlegend zu verändern. Damit finden sich Engagierte und Geflüchtete mit ihren Erfahrungen und Erkenntnissen, die sie in ihren unterschiedlichen Rollen gemacht haben, eng bei einander „im selben Boot“ wieder.

Kommentar von Dr. Holger Backhaus-Maul für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 176 – März 2017 vom 31.03.2017

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