Gastkommentar: Ohne politischen Arm – die türkische Zivilgesellschaft nach dem Referendum

von Anil Al-Rebholz, Istanbul

Die Machtkonzentration des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner Partei AKP in der Türkei schreitet voran. Am 16. April 2107 wurde durch ein Referendum eine grundlegende verfassungsrechtliche Änderung in der Türkei mit 51,4 Prozent zu 48,6 Prozent vom Volk mit einem „Ja“ befürwortet. Was ist in der Periode danach auf der Ebene der politischen Gesellschaft und der zivilen Gesellschaft passiert? Welche Auswirkungen hatte das in den vergangenen Wochen auf die türkische Zivilgesellschaft und die Menschen, die sich engagieren?

Nach dem 16. April 2017

Gleich in der Woche nach dem Wahlsonntag wurde ein Dokumentarfilmregisseur, der zuvor auch mit einer Dokumentation über die Gezi-Proteste (Sommer 2013) der Regierung bekannt wurde, festgenommen. Die Massen, die noch am Wahlabend gegen die Referendumsergebnisse mit Pfannen und Töpfen lautstark im städtischen öffentlichen Raum protestiert hatten, gingen auch in den darauf folgenden Tagen auf die Straße, um gegen Unregelmäßigkeiten beim Referendum zu protestieren, und sahen sich mit Polizeigewalt und Festnahmen konfrontiert. Festnahmen und Repressionen, die der Unterdrückung der gesellschaftlichen Opposition dienen, dauern noch immer an. So wurden zum Beispiel Mitte Mai 2016 die Angestellten und Journalisten der Zeitung Sözcü – bekannt für ihre streng laizistische und kemalistische Ausrichtung – unter dem Vorwurf verhaftet, sie hätten im Namen der Gülen-Organisation Verbrechen begangen. Aktuell befinden sich 158 Journalisten im Gefängnis. Mehrere Akademikerinnen und Akademiker wurden durch neu erlassene Dekrete von den staatlichen Universitäten entlassen.

Die Repressionen betreffen auch Medien: Noch vor Ende April 2017 verbot die Regierung die beliebten Heirats-Shows verschiedener Fernsehkanäle mit der Begründung, die Shows verstießen gegen Normen der türkischen Familie und Sitten. Auch wurde Ende April 2017 das Informationsportal Wikipedia mit der Begründung gesperrt, dass in einigen Einträgen der Vorwurf erhoben würde, die türkische Regierung würde den IS unterstützen.

Hungerstreikende verhaftet

Am 22. Mai 2017 wurden Nuriye Gülmen und Semih Özakça verhaftet, zwei Pädagogen, die durch Dekrete ihre Beschäftigungen verloren und seit 75 Tagen im Hungerstreik waren. Nachts wurden sie zusammen mit ihren Angehörigen aus ihren Wohnungen geholt, zunächst in Untersuchungshaft und im Anschluss daran ins Gefängnis gebracht. Rund zweihundert Protestierende, die sich vor dem Menschenrechtsdenkmal in Ankara versammelten, um gegen die Festnahme der beiden Pädagogen zu demonstrieren, trieb die Polizei mit massiver Gewalt auseinander und sperrte das Menschenrechtsdenkmal ab. Abgeordnete und Aktivisten sprechen – ironisch gebrochen – nun auch davon, jetzt sei auch das Denkmal selbst „verhaftet“ worden. Die beiden Pädagogen werden beschuldigt, Mitglied einer terroristischen Organisation zu sein. In Wahrheit dürfte jedoch hinter der Verhaftung die Befürchtung stehen, dass sich ihr Hungerstreik zum Todesstreik verwandeln könnte und Massenaufstände auslöst, wie sie während der Gezi-Proteste im Juni 2013 oder 2009/10 während der Proteste der Arbeiter des damals staatlichen Alkohol- und Tabak-Unternehmens Tekel stattfanden. – Die beiden Pädagogen sind längst nicht die einzigen, die persönlich so massiv protestieren: Mittlerweile werden bis zu 40 Selbstmorde von Akademikern, Beamten und Offizieren gezählt, die durch Dekrete ihre Positionen verloren haben, und in 20 Gefängnissen sind aktuell 187 kurdische politische Gefangene im Hungerstreik.

Die Gesellschaft ist gespalten

Die Ergebnisse der Volksabstimmung wurden zum Thema soziologischer, politischer und journalistischer Analysen in der türkischen Öffentlichkeit. Die zuletzt veröffentlichen Statistiken des Forschungsinstituts Konda bestätigten die ersten Analysen, die gleich nach dem Referendum vorgestellt wurden: In den Städten hat eine Mehrheit jener Bevölkerung, die politisch, kulturell und ökonomisch die Richtung der Türkei bestimmt, mit „Nein“ gestimmt: Eine junge, gut ausgebildete, städtische Bevölkerung, die aktiv im Berufsleben steht, einen hohen sozioökonomischen Status hat und ihren Lebensstil als säkular und modern bezeichnet. Die „Ja-Stimmen“ kommen eher von Bewohnern kleinerer Städte mit geringerem sozioökonomischem Status und von Bevölkerungsgruppen mit einem niedrigeren Bildungsniveau. Diese beiden Gruppen unterscheiden sich aber in erster Linie durch unterschiedliche Lebensstile und Glaubensausrichtung: Die Mehrheit der „Ja-Stimmen“ bezeichnen sich als „gläubige Konservative“ und dementsprechend tragen die Frauen in dieser Gruppe auch ein Kopftuch.

Gleich nach dem Referendum sind die Aktivistinnen der „Nein-Komitees“ protestierend mit Plakaten „Nein, wir haben gewonnen!“, „Nein, es ist noch nicht zu Ende!“, auf die Straße gegangen. Im Vergleich zu den immensen Mitteln der regierenden Partei hatten diese „Nein“- Aktivisten kaum finanzielle und politische Mittel – umso größer ist jedoch ihr Erfolg. Frauenrechtlerinnen, Aktivisten der Berufskammern und Gewerkschaften, Arbeiter, Universitätsstudenten, Akademikerinnen und Akademiker, Friedensaktivisten, Kurden, aber auch regierungskritische Muslime hatten nach der Volksabstimmung die Seele des Gezi-Aufstands wieder belebt und die Juniversammlungen (Haziran Meclisleri) aus dem Jahre 2013 reaktiviert.

Der 16. April 2017 hat gezeigt, dass trotz ihrer Niederlage beim Referendum die regierungskritischen, oppositionellen zivilgesellschaftlichen Gruppen in der Türkei nicht in der Minderheit sind. Gleichzeitig aber scheint es noch keine ernst zu nehmende politische Führung zu geben, die diese außerparlamentarischen oppositionellen Gruppen durch eine institutionelle Parteipolitik repräsentiert. In Summe, so kann fraglos festgestellt werden, ergeben sich für die zivilgesellschaftliche Betätigung erschwerte Bedingungen.

Trügerische Polarisierung

Viele Türkeikenner haben darauf aufmerksam gemacht, und zuletzt betonte es der weltweit bekannte Türkeihistoriker und Turkologe Prof. Dr. Eric-Jan Zürcher noch einmal: Es ist zu befürchten, dass die Regierung immer mehr in die Richtung einer Diktatur abgleitet. Der 16. April 2017 hat aber endgültig gezeigt, so auch einige Analysen, dass die Gesellschaft in zwei Lager geteilt wurde: Es kann von einem „säkularen“ und einem „islamischen“ Teil gesprochen werden. Doch eigentlich eint diese beiden Lager mehr als sie trennt. Viel gefährlicher als die Unterteilung der Gesellschaft in „Säkulare“ und „Islamische“ ist die durch die Regierung auferlegte „Wir“- gegen „Sie“- Polarisierung. Nicht nur, dass diese Polarisierung die Gruppen in sich fälschlicherweise homogenisiert, sondern eine solche Unterteilung in „Wir“ und „Sie“ kann immer beliebig aktiviert werden, je nach der politischen Lage durch die regierenden Kräfte, was zu furchtbaren gesellschaftlichen Konsequenzen führen kann. So steht sowohl den Parteien im Parlament wie auch den oppositionellen zivilgesellschaftlichen Gruppen außerhalb des Parlaments eine sehr schwierige Aufgabe bevor: Die Unterteilung als „Wir“ und „Sie“ gilt es aufzubrechen und zu zeigen, dass alle Menschen in der Gesellschaft (ob in der Minderheit oder in der Mehrheit) demokratische Freiheiten und Rechte, und zwar uneingeschränkt, benötigen.

Asst. Prof. Anıl Al-Rebholz ist Soziologin und Politologin und lebt in Istanbul und Frankfurt a.M. 2009 promovierte sie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. mit einer Doktorarbeit über „Das Ringen um die Zivılgesellschaft in der Türkei: Intellektuelle Diskurse, oppositionelle Gruppen und Soziale Bewegungen seit 1980“. Al-Rebholz arbeitet seit 2014 als Assistent Professor an der Stiftungsuniversität Okan in İstanbul. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind soziale Bewegungen, politische Soziologie, Transnationale Migration und Geschlechterstudien.

Kommentar von Asst. Prof. Anil Al-Rebholz für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 178 – Mai 2017 vom 31.05.2017

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