Kommentar: Zivilgesellschaftsforschung ohne Zivilgesellschaft?

von Holger Backhaus-Maul

Die deutsche Zivilgesellschaftsforschung soll in Berlin gebündelt werden. Im Juli präsentierte sich jetzt die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften unter maßgeblicher Beteiligung ihres Präsidenten Prof. Dr. Günter Stock als Forum und organisatorischer Nukleus der zukünftigen deutschen Engagementforschung. Fast gleichzeitig verwahrte sich Professor Stock im Rahmen des Leibniz-Tages seiner Akademie vehement gegen jeglichen Einfluss der Zivilgesellschaft auf die Wissenschaft. Und Professor Stock ist nicht irgendwer, sondern unter anderem als Präsident der deutschen und europäischen Wissenschaftsakademien einer der führenden Köpfe der Wissenschaftspolitik. Zivilgesellschaft als Gegenstand von Forschung, aber ohne Einfluss auf die Wissenschaft, so lässt sich die von ihm geäußerte Position zusammenfassen.

Tatsächlich aber geht es noch um viel mehr. Die gesellschaftliche Öffnung von Hochschulen hat in den USA und Großbritannien Tradition, und die Europäische Union forciert mit Forschungsprogrammen wie etwa „Horizon 2020“ derzeit massiv Kooperationen von Hochschulen und Gesellschaft.

Deutsche Hochschulen können zumindest Ansätze einer gesellschaftlichen Öffnung vorweisen. So wurden bereits in den 1980er Jahren an zahlreichen Hochschulstandorten Wissenschaftsläden gegründet, die den Wissenstransfer der jeweiligen Hochschule in die Gesellschaft organisieren sollten. In den 1990er Jahren riefen deutsche Hochschulen Career Center, Alumni-Programme und Service-Learning-Angebote ins Leben, die gesellschaftliche Kontakte zumindest zu Teilen der „fremden Außenwelt“, wie etwa Arbeitgebern, ehemaligen Studierenden und Lehrenden und eben der Zivilgesellschaft, initiieren und verstetigen sollten. Und: Wirtschaft und Staat kooperieren bereits seit Jahren intensiv mit Hochschulen. Deshalb geht es jetzt auch nicht um die gesellschaftliche Öffnung von Hochschulen im Gesamten. Sondern die konkrete Leerstelle in der gesellschaftlichen Öffnung von Hochschulen besteht – so etwa Prof. Dr. Uwe Schneidewind vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie – in der Kooperation mit der organisierten Zivil- und Bürgergesellschaft: In Deutschland besteht an Hochschulen in punkto Zivilgesellschaft erheblicher Nachholbedarf.

Anregungen, wie diese Kooperation aussehen kann, bieten der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft („Mission Gesellschaft“), das Hochschulnetzwerk Bildung durch Verantwortung („Campus vor Ort“) und auch die Strategieabteilung des BMBF („Transfer“, „Partizipation“). Gefragt sind dabei nicht einseitige Wissenschaftskommunikation und Wissenstransfer in die Gesellschaft, sondern ein wechselseitiger Transfer von Wissen und Kompetenzen zwischen Zivilgesellschaft und Hochschulen. Dabei sollten Bedarfe und Interessen der Zivilgesellschaft in Forschung und Lehre einfließen und umgekehrt die Kompetenzen und Erfahrungen der Zivilgesellschaft für Hochschulen erschlossen werden.

Die organisierte Zivilgesellschaft ist in dieser Sicht nicht mehr Forschungsobjekt, sondern Mitgestalter und Mitentscheider in der Wissenschaft. Und genau hier sind Professor Stocks Bedenken zu verorten, wenn er der Zivilgesellschaft Einflussnahme auf die Wissenschaft verwehrt.

Die entscheidende Frage lautet: Wer ist überhaupt legitimiert, die organisierte Zivilgesellschaft zu repräsentieren? Etwa Kirchen und Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften und Arbeitgeberbände, Parteien und politische Interessenverbände? Sollen gar die jüngst vom Bundesverfassungsgericht zur Auflösung empfohlenen parteipolitisch präformierten Fernseh- und Rundfunkräte ein Comeback als Form der Beteiligung von Zivilgesellschaft auf die Wissenschaft erleben?

Hoffentlich nicht! Aber spätestens hier wird die nach wie vor gering ausgeprägte Selbstorganisations- und Steuerungsfähigkeit der deutschen Zivilgesellschaft mangels tragfähiger eigener Ideen und Vorschläge zur legitimen eigenen Beteiligung zum Problem. Was folgt daraus? Zumindest die Gewissheit, dass sich Vorstellungen von einer gesellschaftlichen Öffnung von Hochschulen ohne Pluralismus und Demokratie und einer Zivilgesellschaftsforschung ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft international und zusehends auch national überlebt haben.

Kommentar von Holger Backhaus-Maul für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 147 – Juli 2014 vom 31.07.2014

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