Lasst sie nur machen: Zivilgesellschaft als Versuchslabor für soziale Innovation und Zukunft

In einer Welt, die durch technologische Fortschritte, gesellschaftliche Veränderungen und ökologische Herausforderungen geprägt ist, wird die Rolle der Zivilgesellschaft immer wichtiger. Sie hat das Potenzial, innovative Ideen zu entwickeln, um komplexe Probleme zu lösen und diese in das Leben der Menschen zu übersetzen. Vernetzung spielt dabei eine tragende Rolle.

Von Michael Vilain

Natürlich gibt es nicht nur die eine, homogene Zivilgesellschaft. Vielfalt ist für sie ein geradezu bestimmendes Wesensmerkmal. Die Zivilgesellschaft versammelt viele Akteure, darunter Nonprofit-Organisationen (NPO) wie Vereine und Verbände, soziale Unternehmen, Initiativen, (Bürger-)Stiftungen, aber auch spontan organisierte Gruppen. Sie alle bringen ihre unterschiedlichen Perspektiven, Denkansätze und Ressourcen in die Lösung gesellschaftlicher Probleme ein.

Ihre Stärke liegt einerseits in der Nähe zur Bevölkerung, dem Verständnis für lokale Bedürfnisse und der Fähigkeit, schnell und flexibel zu handeln. Andererseits unterstützen große Verbände wie etwa die Wohlfahrtsverbände, aber auch Berufs- und Fachverbände die Übersetzung der Interessen der Menschen in die Politik. Sie kooperieren mit der Politik auf allen Ebenen, erbringen mitunter Dienstleistungen für die Gesellschaft, sind Schrittmacher und üben Druck auf die Politik aus. Zivilgesellschaft fördert Partizipation, Bildung und Netzwerke, in denen sich neue soziale Praktiken rasant verbreiten können – am liebsten ganz ohne staatliche Steuerungsversuche. Und vor allem ist Zivilgesellschaft auch ein großes Versuchslabor für „…neue Ideen, die darauf abzielen, soziale Bedürfnisse zu erfüllen und neue Beziehungen oder Kooperationen zwischen Bürgern, Gemeinschaften und Organisationen zu schaffen“ (Europäische Kommission).

Ohne Praxis keine Innovation

Allerdings reicht, entgegen landläufiger Stammtischmeinung, die Idee allein nicht aus, um zu einer sozialen Innovation zu führen. Denn sie muss auch in eine gelebte soziale Praxis überführt werden. Logisch also, dass es zwar viele Ideen zur Lösung sozialer Probleme gibt, die Zahl der realen Umsetzungsversuche jedoch bereits deutlich geringer ist und die echten Erfolge noch seltener sind. Hinzu kommt, dass es auf soziale Innovationen kaum Patente gibt, neue Ideen schnell kopiert werden können und dann der kommerzielle Nutzen ausbleibt. Das spüren viele der sogenannten Social Entrepreneurs, Mischformen aus unternehmerischer und karikativer Organisation, die in den letzten Jahren vermehrt antreten, um nicht nur soziale Probleme zu lösen, sondern mit diesen Aktivitäten auch selbst ein Einkommen zu erzielen. Das gelingt leider nicht oft.

Der Antrieb für soziale Innovation ist entsprechend selten ein reines Gewinnstreben. Er stammt meist auch nicht aus einer politisch verordneten Förderumwelt. Er liegt vielmehr im einzelnen Menschen begründet und in dessen Spannungsverhältnis zwischen den wahrgenommenen sozialen und gesellschaftlichen Zuständen und dem Wunsch nach Veränderung. Solche Spannungen gibt es satt. Viele soziale Probleme spitzen sich zu, beispielsweise Wohnungslosigkeit, Gentrifizierung der Städte, Verteuerung des täglichen Lebens, Klimakrise, Ausweitung der Staatstätigkeit, Migration und Integration, Abstiegsängste der Mittelschichten. Gleichzeitig wächst die Unzufriedenheit in der Bevölkerung und schwindet das Vertrauen in angestammte Institutionen.

Der Nährboden ist bereitet

Anders gesagt: Es ist genug Dampf im Kessel – der Nährboden für soziale Innovationen ist bereitet. Ihr Antriebsriemen sind die finanziellen, technischen und kommunikativen Möglichkeiten der jeweiligen Zeit. Handlungsfelder sind dabei unter anderen:

  • Digitale Lösungen: Die Digitalisierung bietet zahlreiche Möglichkeiten für soziale Innovationen. Plattformen für den Austausch von Dienstleistungen, Nachbarschaftshilfe oder Peer-to-Peer-Learning sind Beispiele dafür, wie Technologie genutzt werden kann, um soziale Interaktionen zu fördern. In Zukunft könnten solche digitalen Plattformen noch mehr Raum für Bürgerengagement schaffen und lokale Gemeinschaften stärken.
  • Nachhaltige Entwicklung: Angesichts der Klimakrise wird die Entwicklung nachhaltiger Lösungen immer wichtiger. Soziale Innovationen könnten sich darauf konzentrieren, umweltfreundliche Praktiken in den Alltag zu integrieren, etwa durch gemeinschaftliche Projekte wie Urban Gardening oder lokale Tauschbörsen, aber auch durch die Sicherung der Akzeptanz für nachhaltiges Handeln in allen Lebensbereichen. Diese Initiativen fördern nicht nur die Umwelt, sondern stärken auch den sozialen Zusammenhalt.
  • Inklusive Gesellschaft: Die Schaffung einer inklusiven Gesellschaft ist eine der größten Herausforderungen der heutigen Zeit. Soziale Innovationen, die darauf abzielen, marginalisierte Gruppen einzubeziehen, könnten neue Programme zur beruflichen Bildung oder zur sozialen Integration entwickeln. Projekte, die Flüchtlingen und Migranten helfen, sich in die Gesellschaft einzugliedern, werden zunehmend an Bedeutung gewinnen.
  • Politikalternativen: In vielen Staaten weltweit lassen sich die Entstehung neuer politischer Gruppierungen und Parteien beobachten, viele davon als Form des Protests gegen etablierte Strukturen und deren als mangelhaft wahrgenommene Problemlösungsfähigkeit. Grundlage sind dabei nicht selten neuartige Kommunikationsstile und netzwerkartige Kommunikationsstrukturen, die es mitunter auch vermögen, zuvor isolierte Gruppen miteinander zielgerichtet zu verbinden.

Um Innovationen erfolgreich umzusetzen und zu verbreiten, ist eine starke Vernetzung innerhalb der Zivilgesellschaft unerlässlich. Kooperationen zwischen verschiedenen Akteuren – sei es zwischen NPOs, Unternehmen, Kirchen, Schulen oder Kommunen und Ministerien – können das Entstehen und die Wirksamkeit sozialer Innovationen erhöhen. Netzwerke ermöglichen auch den Austausch bewährter Praktiken und fördern die Verbreitung erfolgreicher Lösungen.

Fazit

Auch wenn der Fokus vieler öffentlicher Debatten derzeit auf der Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft und Staat liegen, wird deutlich, dass die Zukunft unseres Landes letztlich davon abhängt, ob und wie es gelingen wird, die Erfordernisse einer modernen und nachhaltigen Welt auch in gelebte und akzeptierte soziale Praxis zu verwandeln. Dazu braucht es künftig mehr denn je soziale Innovationen – und Zivilgesellschaft.

Prof. Dr. phil. Michael Vilain ist Vizepräsident für Forschung und Internationales der Evangelischen Hochschule Darmstadt, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft (IZGS) und Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Aktive Bürgerschaft.

Foto: Jörg Meisinger

Dieser Beitrag ist Teil des FOKUS SOZIALE INNOVATION GESTERN, HEUTE, MORGEN der bürgerAktiv – Nachrichten für Engagierte Oktober 2024 der Stiftung Aktive Bürgerschaft.

, Ausgabe 260 Oktober 2024, Fokus