Nur noch bürgerschaftliches Engagement anstatt Zivilgesellschaft?

Viele autoritäre Staaten erschweren zivilgesellschaftlichen Organisationen die Arbeit zunehmend. Dabei steht auch in diesen Ländern bürgerschaftliches Engagement grundsätzlich hoch im Kurs – solange es nicht politisch wird. Nun wird auch hierzulande die Frage diskutiert: Wie viel Politik ist im Engagement erlaubt?

von Prof. Dr. Annette Zimmer

Die Meldungen häufen sich. Erst jüngst war in der Zeitung zu lesen: „Türkisches Parlament billigt NGO-Gesetz.“ Gemeint ist damit in der Regel eine Erschwerung der Arbeitsbedingungen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Die Palette der Maßnahmen, um den Organisationen das Leben schwer zu machen, reicht von dem Verbot, Fördermittel aus dem Ausland anzunehmen, über zahlreiche Hürden bei ihrer Registrierung, bürokratischen Kontrollen der laufenden Arbeit bis hin zu blanken Repressionen beziehungsweise polizei- und strafrechtlicher Verfolgung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Gesetze und Verordnungen, die die Arbeit von NGOs einschränken und externe Finanzierung verbieten, sind inzwischen in vielen Ländern in Kraft.

Vor diesem Hintergrund hat sich in der Wissenschaft eine intensive Debatte zu „shrinking und changing spaces“, den enger werdenden Freiräumen für die Zivilgesellschaft entwickelt. Der Fokus richtete sich hierbei vor allem auf diejenigen Länder, die in den 1980er und verstärkt in den 1990er Jahren eine Transition von einem autoritären Regime hin zu einer Demokratie begonnen hatten. Es sind die Länder, die im Rahmen der „Dritten Welle“ der Demokratisierung weltweit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sind. Russland ist hier zu nennen, wie auch viele ehemalige Satelliten der UdSSR, insbesondere in Osteuropa, Länder, die heute Mitglied der Europäischen Union sind. Aber selbst in durch und durch autoritären Regimen, wie etwa die Volksrepublik China, war es ab den 1980er Jahren infolge der zunehmenden Globalisierung zu Lockerungen des harten Kurses gegenüber der Zivilgesellschaft gekommen.

Das Pendant zur wirtschaftlichen Globalisierung war eine zunehmende Internationalisierung der Zivilgesellschaft. Mit Hilfe externer Finanzierung entwickelten sich zivilgesellschaftliche Organisationen in vielen Ländern zu wichtigen Motoren für Demokratisierung und gesellschaftliche Pluralisierung. In Russland wie anderenorts nahmen sie hierbei die Funktionen als sogenannte Watchdogs und Themenanwälte wahr, die darauf achten, dass demokratische Standards eingehalten werden und sich eine aktive Zivilgesellschaft vor Ort bildet. Aufgrund ihrer besonderen Rolle wurden die zivilgesellschaftlichen Organisationen zu wichtigen Ansprechpartnerinnen. Sie waren Katalysatoren gesellschaftlicher Modernisierung in Richtung eines Weges, der wegführt vom alten autokratischen Modell, und gleichzeitig dienten sie als ein Frühwarnsystem gegenüber unguten Entwicklungen.

Insofern war es ganz normal geworden, dass bei Auslandsbesuchen deutscher Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker – wie etwa der Kanzlerin – meist auch ein Treffen mit Vertretern und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft vor Ort vorgesehen war. Es handelt sich hierbei meist um Organisationen, die mit der Regierung des betreffenden Landes nicht immer konform gehen und sich vor allem als kritisches Sprachrohr und als Themenadvokat in Sachen Umweltschutz, Menschenrechte oder auch Anti-Korruption verstehen. Ob auch in Zukunft bei Staatsbesuchen Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft vorgesehen sind und diese auch stattfinden können, ist abzuwarten und eine empirische Frage. Einiges deutet darauf hin, dass es diesbezüglich zu Veränderungen kommen wird. Der Wind ist international rauer geworden. Die wirtschaftliche Globalisierung wird nur noch bedingt begleitet von einer zunehmenden Öffnung gegenüber der Zivilgesellschaft und international tätigen NGOs. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die den Regierungen „den Spiegel vorhalten“ und kontroverse Themen angehen, sind zunehmend Repressionen ausgesetzt und insbesondere von finanzieller Unterstützung abgeschnitten.

Diesbezüglich sehen wir uns in Europa und insbesondere in Deutschland auf einer „Insel der Seligen“. Bürgerschaftliches Engagement steht bei uns ganz hoch im Kurs. Es gibt eine positive öffentliche Grundstimmung, viele Unterstützungseinrichtungen für Engagierte, inzwischen sogar eine bundeseigene Stiftung, die im Dienst der Aktivierung und des Supports für bürgerschaftliches Engagement tätig ist, sowie ein breites Spektrum von Programmen, die mit öffentlichen Mitteln, Interessierten den Weg ins Engagement erleichtern und ihnen Handlungsfelder eröffnen sollen. Also können wir durchaus mit Fug und Recht mit dem Finger auf Russland, China oder Polen zeigen und uns heftig entrüsten, wie dort die Zivilgesellschaft eingeschränkt, bedrängt und in die Schranken verwiesen wird, während bei uns alles in Ordnung ist?

Ganz so einfach, wie es in den Medien häufig rüberkommt, ist die Sachlage nicht. Während im internationalen Bereich in der Regel der Terminus „Zivilgesellschaft“ verwendet wird, trifft dies für die deutsche Debatte in viel geringerem Maße zu. Stattdessen ist hier primär von bürgerschaftlichem Engagement, von freiwilliger Arbeit wie etwa bei den Bundesfreiwilligendiensten oder aber auch von Ehrenamt und ehrenamtlichem Engagement die Rede. Und dies ist nicht nur eine Laune der Journalistinnen und Journalisten, sondern wir haben es in der Tat mit zwei Paar Schuhen zu tun.

Auch wenn der Begriff „bürgerschaftliches Engagement“ von den Expertinnen und Experten der Enquetekommission des Bundestages seinerzeit als Oberbegriff konzipiert worden war, der alle Formen des Engagements, einschließlich primär politischer Aktivitäten, umfassen sollte, ist sein Alltagsgebrauch mittlerweile viel eingeschränkter. Wir denken beim bürgerschaftlichen Engagement vor allem an gesellschaftliche Aktivitäten und an einen sozial-räumlichen Einsatz für das Gemeinwesen. Es geht um die Arbeit in karitativen Organisationen, in den vielen Sportvereinen, im Natur- und Umweltschutz, in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche sowie auch im kulturellen Bereich. Es geht vorrangig darum, die Gesellschaft „im Kleinen zu gestalten“ und hierbei aktiv mitzuwirken. Weit weniger wird mit bürgerschaftlichem Engagement gesellschaftlicher Protest, das Eintreten gegen politisches Missmanagement bis hin zur Korruption oder der Einsatz für Menschenrechte und ein menschenwürdiges Leben – zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe – in Verbindung gebracht.

Nun zeigt sich aber, dass auch in Russland, in China sowie in vielen anderen nicht-demokratischen Ländern bürgerschaftliches Engagement im Sinne des Spendens von Zeit und auch Geld für soziale Anliegen, Aufgaben und Zwecke ebenfalls hoch im Kurs steht. Ja, in Russland gibt es sogar einen speziellen Fonds, eingerichtet von Präsident Putin höchstpersönlich, für private, nicht-kommerzielle Organisationen – also Nonprofits – die im Dienst der Allgemeinheit im karitativen sowie in anderen am Gemeinwesen orientierten Bereichen tätig sind. Und auch die chinesische Regierung ist bemüht, die Errichtung von Stiftungen zu fördern und die weitere Entwicklung gemeinnütziger Organisationen aktiv zu unterstützen. Auf vielen Politikfeldern arbeitet auch der chinesische Staat – ganz ähnlich wie in Deutschland – inzwischen sehr effektiv und zu beiderseitigem Nutzen mit gemeinnützigen Organisationen zusammen. Allerdings sind all diese Organisationen, in Russland, China oder in anderen autokratischen Regimen, mehr oder weniger „auf Linie“. Sie arbeiten in Bereichen, die für die Gesellschaft nützlich sind. Hier leisten sie wertvolle Arbeit, aber ohne das Regime in Frage zu stellen.

Im Gegenteil – die gemeinnützigen Dienstleister tragen mit ihrer Arbeit und ihrem Engagement sogar dazu bei, dass das Regime weniger in der Kritik steht. Ohne die aktive Mitwirkung der gemeinnützigen Organisationen könnte viele Wohlfahrtsleistungen gar nicht angeboten werden und um viele Gruppen der Bevölkerung würde sich gar nicht gekümmert. Zugespitzt könnte man sagen: Die Arbeit der gemeinnützigen Organisationen trägt dazu bei, dass die Autokratie nicht aufgrund mangelnder Leistungsfähigkeit in Frage gestellt wird. Die Arbeit der Organisationen dient mit zur Legitimierung des Systems.

Doch ohne jeden Zweifel sind die Verhältnisse in diesen Ländern klar: Bürgerschaftliches Engagement ist auf das Soziale und den lebensweltlichen Bereich beschränkt. Hier ist es gern gesehen, wird gefördert und in die staatliche Politikgestaltung eingebaut. Doch wehe, wenn es politisch wird, und das Regime kritisiert, Menschenrechte eingefordert und die Allmacht der Partei in Zweifel gezogen werden: Dann ist „der Ofen aus“ und es wird hart unterschieden zwischen der „bösen“ Zivilgesellschaft und den „guten“ gemeinnützigen Organisationen und ihren freiwillig Engagierten.

Selbstverständlich ist die Situation hierzulande nicht mit der in Russland oder China zu vergleichen. Gleichwohl lässt sich auch hier feststellen, dass die Frage nach der politischen Dimension des bürgerschaftlichen Engagements zunehmend neu und anders als noch vor einigen Jahren gestellt wird. Ging die Diskussion lange Zeit in die Richtung, dass die Zivilgesellschaft am besten an die Stelle der verfassten Politik treten sollte, hat sich der Wind inzwischen gedreht. Nun wird sogar gefragt: Wie viel Politik ist im Engagement erlaubt? Und wie politisch dürfen die gemeinnützigen Organisationen sein, ohne dass ihnen der Status der Gemeinnützigkeit entzogen wird? Dies ist inzwischen eine Frage, die auch in Westeuropa und bei den alten Demokratien erneut und kontrovers gestellt wird.

So wurde der globalisierungskritischen Organisation Attac die Gemeinnützigkeit mit der Begründung aberkannt, dass eine Einflussnahme auf politische Willensbildung und Gestaltung der öffentlichen Meinung keinen gemeinnützigen Zweck darstellt. Das heißt politische Bildung dient nicht dem allgemeinen Wohl. Wiederholt wurde der Deutschen Umwelthilfe mit dem Entzug der Gemeinnützigkeit gedroht. Warum? Weil diese zivilgesellschaftliche Organisation inzwischen höchst erfolgreich die Einhaltung der Luftreinhaltungspläne in zahlreichen deutschen Innenstädten eingeklagt hat. In einem jüngst in der Frankfurter Allgemeinen veröffentlichen Artikel fordern zwei namhafte Juristen ganz offen und mit Nachdruck, die Einhaltung der Grenzen des politischen Diskurses für zivilgesellschaftliche Organisationen. Danach soll „die Politik“ primär und ausschließlich in unserem Land Sache der Parteien sein. Ein Engagement über die Grenzen des genuinen Tätigkeitsfeldes der Organisation hinaus, soll daher nicht mehr möglich sein beziehungsweise den Verlust der Gemeinnützigkeit nach sich ziehen. Das heißt Ende der Themenanwaltschaft und des bürgerschaftlich-advokatorischen Engagements für die gemeinnützigen sozialen Dienstleister sowie für das breite Spektrum der Vereine.

Wie steht es dann mit dem Bürgerrecht auf Demokratie und mit der Chancenstruktur, sich einzubringen zu können, Themen zu diskutieren und auf Politik einzuwirken, ohne bereits Teil der verfassten Politik zu sein? Bereits seit langem fordern zivilgesellschaftliche Organisationen eine Modernisierung des bundesdeutschen Gemeinnützigkeitsrechts – bisher erfolglos. Das Ziel ist die Anerkennung der Zivilgesellschaft als wichtige Stimme im Kontext von Politikgestaltung. Gefordert wird, dass sich zum Beispiel ein Karnevalsverein nicht nur feiern, sondern sich auch zum Beispiel für die Rechte von Minderheiten einsetzen und in diesem Sinne politisch tätig sein darf. Auch sollte der Einsatz für Menschen- und Bürgerrechte unbedingt in den Katalog der gemeinnützigen Zwecke der Abgabenordnung aufgenommen werden, so die Forderung des zivilgesellschaftlichen Aktionsbündnisses für Gemeinnützigkeit.

Doch neben dem drohenden Entzug der Gemeinnützigkeit wird zivilgesellschaftlichen Organisationen, die aufgrund ihres Engagements an sich schon politisch tätig sind, das Leben durch eine Infragestellung ihrer lauteren Beweggründe schwer gemacht und insofern versucht, die Legitimität dieser Organisationen in Frage zu stellen. Dies passiert immer wieder im Hinblick auf Organisationen, die in der Seenotrettung von Flüchtlingen tätig sind. Nicht selten wird diesen zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstellt, dass sie mit Schlepperbanden zusammenarbeiten. Leider sind solche und ähnliche Beispiele nicht auf Deutschland beschränkt. Jüngst wurden von der Schweizerischen Gesellschaft für Gemeinnützigkeit ganz ähnliche Tendenzen aus einer Reihe von Kantonen berichtet.

Es ist alles andere als eine gute Idee, bürgerschaftliches Engagement um seine genuin zivilgesellschaftliche Komponente zu berauben. Gerade jetzt in Zeiten der Krise und zunehmender Radikalisierung braucht die Politik die Zivilgesellschaft als verlässlichen Ansprechpartner. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen mit ihren Erfahrungen in einer Vielfalt von Politikfeldern sollten ernst genommen und ihre Expertise in viel stärkeren Maße als bisher genutzt werden. In dieser Hinsicht sind die Parteien von vorgestern und verpassen ihre Chance.

Warum dies so ist, ist umso unverständlicher, als auch in Deutschland die Politisierung der Straße zunimmt. Es gibt unzählige Demonstrationen kleiner und kleinster Gruppen in Berlin und anderswo. Von Ausnahmen abgesehen – wie etwa Fridays for Future – treten diese in der Regel nicht für etwas ein, sondern sind schlichtweg und überwiegend dagegen. Es handelt sich weitgehend um negative Abgrenzungen ohne zukunftsgewandte Orientierung: gegen Windräder, gegen Impfung, gegen das Tragen von Masken und ohne jegliche positive gesellschaftliche Vision und ganz im Sinne des „Nur nicht in meinem Vorgarten“.

Anstatt sich gegen die Zivilgesellschaft als Themenanwalt zu stellen, wäre die Politik heute gut beraten, wachsam zu sein, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern dafür Sorge zu tragen, dass bürgerschaftliches Engagement immer gesellschaftlich rückgebunden bleibt und sich nicht ausschließlich einfügt in staatlicherseits vorgegebene Maßnahmen und Programme.

In diesem Sinne sollten wir gemeinsam für eine „Aktive Bürgerschaft“ eintreten.

Zum Weiterlesen:

Anheier, H. & Toepler, St. (2020): Zivilgesellschaft zwischen Repression und Vernachlässigung, in: FJSB 2020; 33(3): 587–600

Alscher, M., Priller, E., Ratka, S., & Strachwitz, R. G. (2017): The Space for Civil Society: Shrinking? Growing? Changing? (Opuscula #104). Berlin: Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft:

Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (2020): Bedrängte Zivilgesellschaft: https://sgg-ssup.ch/news/bedraengte-zivilgesellschaft-shrinking-civic-space/

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