Pflicht mit vielen Freiheiten

Für den Schutz der Meere, für Münsteraner Obdachlose oder für Bewohnerinnen und Bewohner eines Seniorenheims – die Schülerinnen und Schüler der Mathilde Anneke Gesamtschule entscheiden in der ersten Phase der sozialgenial-AG, wofür sie sich später im Schuljahr engagieren möchten.

Ein kalter Dezembernachmittag in Münster, Nordrhein-Westfalen. Auf dem Schulhof der Mathilde Anneke-Gesamtschule stehen Schülerinnen und Schüler des 7. Jahrgangs, sie schauen alle in eine Richtung, bewegen sich aber in unterschiedlichem Tempo fort. Das tun sie immer dann, wenn Sonderpädagoge Christian te Heesen etwas vorliest wie „Du bist krank, gehst zum Arzt und deine Krankenversicherung wird die Kosten dafür übernehmen“.

Die Schüler haben zuvor Rollenkarten ausgeteilt bekommen, nach denen sie in diesem Spiel ein illegales Flüchtlingskind, ein Obdachloser oder eine Akademikertochter sind. Wer glaubt, dass die Aussage auf sich zutrifft, geht einen Schritt vor. Die anderen bleiben stehen.

Nach einiger Zeit sind einige weit voraus, andere kaum einen Schritt vorangekommen. „Wie fühlt sich das an?“, fragt te Heesen. „Traurig“, sagt eine Schülerin. Und dass sie wütend geworden sei. Ungerechtigkeit und Diskriminierung am eigenen Leib zu spüren, darum geht es in diesem Spiel.

Fünf Workshops bietet die Mathilde Anneke Gesamtschule den ca. 120 Schülerinnen und Schülern der 7. Stufe in diesem Jahr in der sozialgenial-AG an. Sie haben neben Demokratie & Frieden die Schwerpunkte Umwelt & Ressourcenschutz, Integration & Teilhabe sowie Werte & Bildung.

Die Teilnahme an der AG ist zwar verpflichtend und soll auf ein Engagement in einer gemeinnützigen Einrichtung oder für eine gemeinnützige Organisation hinauslaufen, dennoch haben die Schüler viele Freiheiten. So dürfen sie selbst entscheiden, wo genau sie sich von Anfang Februar bis Ende Mai engagieren möchten. „Das ist denen ganz wichtig und auch für die Schule von Vorteil“, erklärt Lehrerin Sabine Fuchs, die die AG für die Schule koordiniert. „Die Schüler bringen die besten Kontakte mit, zum Verein, zur Kita. Wir helfen nur, wenn einer gar keine Idee hat.“

Die Schüler bringen die besten Kontakte mit, zum Verein, zur Kita. Wir helfen nur, wenn einer gar keine Idee hat.

Sabine Fuchs, Mathilde Anneke Gesamtschule

In den Workshops, die von Ende Oktober bis Ende Januar einmal pro Woche stattfinden, stellen sich die gemeinnützigen Organisationen vor und zeigen Engagementmöglichkeiten auf. Heute sind das die Vereine „Vamos“ und „Ein Rucksack voll Hoffnung – für Münster“ sowie die Diakonie. Eingeladen werden sie von den Workshopleitern, die als Lehrer an der Schule arbeiten und auch eigene Ideen zur Gestaltung einbringen können.

In der Aula planen circa 40 Schülerinnen und Schüler gerade den Empfang von Bewohnerinnen und Bewohnern des nahe gelegenen Klarastifts, eines Seniorenheims. Schon nächste Woche sollen sie zum „Generationen-Café“ in die Schule kommen, die Schüler möchten mit ihnen dann über das Thema Werte sprechen. Zunächst bearbeiten sie Aufgaben zum Thema Alter und Älterwerden. Dann geht es ans Konkrete. Auf die Fragen „Wer richtet die Aula her?“, „Wer holt die Bewohner aus dem Altenheim ab?“, „Wer gestaltet das Willkommensplakat?“, melden sich gleich mehrere Schüler freiwillig.

Sabine Fuchs führt uns weiter zum nächsten Workshop Umwelt & Ressourcenschutz. In einem Klassenraum sitzen die Schülerinnen und Schüler in einem Stuhlkreis und sehen sich ein Video zum Thema Mikroplastik an. Die Poetry-Slammerin Rita Apel erklärt dort in Gedichtform, was Mikroplastik überhaupt ist, was es mit Meeren und Fischen macht und wie man es als Bestandteil von Kosmetika erkennen kann. Der Verein „Vamos“ hat einen Infokoffer zum Thema zur Verfügung gestellt.

Fuchs selbst leitet in diesem Jahr keinen eigenen Workshop, dafür hält sie alle Fäden zusammen: die zu den außerschulischen Partnern, zu den Workshopleitern, zu den Klassenlehrern des 7. Jahrgangs, bei denen sich die Schüler für einen der Workshops entscheiden, und zu jenen Lehrern, die in ihren Fächern Anknüpfungspunkte zum sozialen Engagement herstellen. Auf zwei Stunden pro Woche schätzt sie den Aufwand für die Koordinierung, freigestellt wird sie dafür nicht. Im Hauptberuf ist sie Lehrerin für Deutsch und Gesellschaftslehre.

Beim Service Learning geht es nicht alleine darum, dass sich Schüler für die Gesellschaft engagieren, sondern auch darum, fachliches Wissen zu vertiefen. Je nachdem, wie der Schwerpunkt gesetzt wird, stehen eher fachspezifische oder engagementbezogene Inhalte im Fokus des Unterrichts. An der Mathilde Anneke Gesamtschule wurde das Thema Mikroplastik im Fach Naturwissenschaften behandelt, das Thema Demokratie im Fach Gesellschaftslehre. In Deutsch haben sie Sachtexte zum sozialen Engagement gelesen, in Wirtschaft die Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow durchgenommen, auf der sich auch soziale Bedürfnisse wiederfinden.

Im Workshop Integration & Teilhabe geht es aber erst mal um eine Begegnung – und zwar mit einem ehemaligen Obdachlosen. Der stellt sich als Roman vor und bittet uns scherzhaft um eine kleine Aufwandsentschädigung. Er erzählt viel und gern, wie er sagt, die Schüler wirken ehrlich beeindruckt. „Man muss diszipliniert an die Obdachlosigkeit herangehen“, überrascht er seine Zuhörer. So vieles sei zu organisieren: Frühstück, Wäsche, als Umzugshelfer arbeiten oder andere Hilfsarbeiten ausführen. Seine verkrümmten Hände zeugen von den Belastungen, die er erlebt hat. „Ich kann heute nicht mehr so viel“, räumt der gelernte Tischler ein. Dennoch gibt es auch für ihn noch Menschen, „denen geht’s schlechter, den Flüchtlingen an der weißrussischen Grenze zum Beispiel“.

Bis zur Praxisphase sind es noch mehrere Monate, doch die Corona-Pandemie hat der Schule schon einmal die Pläne durchkreuzt. Sabine Fuchs ist dementsprechend gelassen: „Da müssen wir dann spontan etwas von der Schule ausrichten und andere Projekte anbieten. Im letzten Jahr haben wir Mutmach-Postkarten entworfen und versendet und einen Bauzaun an der Schule künstlerisch gestaltet, um ein Zeichen für Vielfalt und Akzeptanz zu setzen.“

Text: Lena Guntenhöner, Fotos: Thorsten Arendt