Der Bundespräsident hat sich für eine soziale Dienstpflicht für alle ausgesprochen, um den Gemeinsinn in Deutschland zu stärken. Das Ziel ist richtig, für den Weg dahin gibt es eine bessere Lösung.
Von Stefan Nährlich (Stiftung Aktive Bürgerschaft)
Der Bundespräsident hat sich vor zwei Wochen im Interview mit der Bild am Sonntag für eine soziale Dienstpflicht für alle ausgesprochen. Man komme raus aus der eigenen Blase, treffe ganz andere Menschen, helfe Bürgern in Notlagen. Das baue Vorurteile ab und stärke den Gemeinsinn, argumentierte Frank-Walter Steinmeier.
Ich finde, der Vorschlag ist weder schlecht noch unzeitgemäß, wie es in einigen ersten Reaktionen auf den Vorschlag aus Parteien und Verbänden hieß. Gerade erst erleben wir im Zusammenhang mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, dass sich bei vielen die Einstellung zum Militär ändert. Auch andere vermeintliche Gewissheiten könnten die Zeitenwende nicht überstehen. Was Steinmeier angesprochen hat, sollte man nüchtern und ideologiefrei prüfen und nicht vorschnell abtun.
Jede Dienstpflicht ist ein Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte und damit ist sparsam umzugehen. Verpflichtungen – besonders, wenn sie als ungerecht empfunden werden – erzeugen häufig eine zumindest innere Ablehnung. Auch der Ton macht bekanntlich die Musik. Den Vorschlag über die Bildzeitung, das große Medium des sozialen Zusammenhalts (Ironie!), zu verbreiten, fällt dann auch schnell auf den Vorschlag zurück.
Können Menschen tun wollen, was sie tun sollen?
Dennoch und Bodo Ramelow hat darauf hingewiesen, es gibt auch andere Pflichten, wie die Schulpflicht. Wichtig sei ihm, so der thüringische Ministerpräsident, dass eine soziale Dienstzeit keine verlorene Zeit sei. Richtig. Die Frage ist also, kann man gesellschaftliche Erfordernisse mit individuellen Vorlieben zusammenbringen? Können Menschen tun wollen, was sie tun sollen?
Ich meine, ja, das geht. In der Mathilde Anneke Gesamtschule in Münster müssen die Schülerinnen und Schüler der 7. und 11. Jahrgangsstufe sich über insgesamt drei Schulhalbjahre hinweg ehrenamtlich engagieren. Sie suchen sich dazu mit Unterstützung ihrer Schule Projekte bei den gemeinnützigen Vereinen, Initiativen und Stiftungen der Stadt. Das Engagement ist im Stundenplan verankert und mit Unterrichtsinhalten verknüpft. Rund 100 junge Menschen machen so jedes Jahr und oft zum ersten Mal, was sich Bundespräsident Steinmeier für unsere Gesellschaft insgesamt wünscht: Sie helfen ihren Mitmenschen, üben soziales Verantwortungsbewusstsein ein, entwickeln Kommunikations- und Teamfähigkeit, schulen kritisches Denken. Wenn sie dann in der 11. Jahrgangsstufe sind, machen sie diese Erfahrungen zum zweiten Mal. Kurz gesagt: Sie lernen fürs Leben. Und es macht ihnen auch noch Spaß.
Besser in Schulen und Bildung als in eine Dienstpflicht investieren
Solche Service-Learning-Projekte wie in Münster gibt es an rund 1000 Schulen in Deutschland. Nicht immer so systematisch organisiert wie in Münster, aber mit vielen Ansätzen und Erfahrungen, auf die man aufbauen kann. Statt eine neue Dienstpflicht einzuführen und mit Bundesämtern, Bürokratie und Behäbigkeit zu verwalten, sollte man lieber Geld in Schulen und Bildung investieren. Alle weiterführenden Schulen (und auch Hochschulen) könnten ihren Schülerinnen, Schülern und Studierenden die Möglichkeit zum Engagement verbunden mit Lerninhalten anbieten. Gemeinnützige Organisationen könnten solche Service-Learning- Projekte nach Qualitätsmerkmalen umsetzen.
Ich meine, Service Learning ist die bessere soziale Dienstpflicht, Herr Bundespräsident. Im Herbst laden wir zu einem Fachaustausch in die Mathilde-Anneke-Gesamtschule in Münster ein. Sie sind herzlich eingeladen.
PS: Im Schuljahr 2021/2022 haben wir der sozialgenial-AG der Mathilde Anneke Gesamtschule über die Schulter geschaut. Die Reportage gibt es hier zu lesen.
Kommentar von Dr. Stefan Nährlich für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 234 – Juni 2022 vom 27.06.2022
Ergänzung vom 20.03.2023: Siehe zu dem Thema auch die Diskussion auf SWR2 Dienst für Deutschland – Brauchen wir ein Pflichtjahr für alle?