Soziale Innovationen gestern und heute: Genossenschaften und Wohlfahrtsverbände

Als sie im 19. Jahrhundert entstanden, waren Genossenschaften und Wohlfahrtsverbände innovative Akteure des sozialen Wandels. Sie boten alternative Modelle zur kapitalistischen Wirtschaftsweise und zur staatlichen Bürokratie. An der Schnittstelle von Staat, Markt und Gemeinschaft ermöglichten sie es den Menschen, ihre ökonomische und soziale Situation eigenverantwortlich zu verbessern.

Von Tanja Klenk

Was sind soziale Innovationen?

Soziale Innovationen sind Veränderungen in sozialen Praktiken, die darauf abzielen, gesellschaftliche Herausforderungen zu lösen oder neue, bessere Wege des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens zu schaffen. Das können neue Organisationsformen und Geschäftsmodelle sein, neue soziale Bewegungen oder politische Strategien. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur technischen Fortschritt bedeuten, sondern auch soziale Beziehungen, Verhaltensweisen und institutionelle Strukturen nachhaltig beeinflussen.

Klassische Beispiele für soziale Innovationen sind Genossenschaften und Wohlfahrtsverbände. Beide Organisationstypen entstanden im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die sozialen Missstände der Industriellen Revolution. Viele Menschen litten unter schlechten Arbeitsbedingungen, hatten nur unzureichenden Zugang zu wichtigen Ressourcen wie Krediten, Wohnraum oder landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die soziale Absicherung im Falle von Krankheit und Invalidität reichte nicht aus. Genossenschaften und Wohlfahrtsverbände bildeten sich damals als neue gesellschaftliche Ordnungsformen heraus.

Sie können als soziale Innovationen betrachtet werden, weil sie alternative Modelle boten zu den beiden dominanten gesellschaftlichen Ordnungsformen ihrer Zeit – der kapitalistischen Wirtschaftsweise und der sich im Zuge der Nationalstaatsbildung entwickelnden staatlichen Bürokratie. Genossenschaften und Wohlfahrtsverbände positionierten sich an der Schnittstelle von Staat, Markt und Gemeinschaft und ermöglichten es den Menschen, ihre ökonomische und soziale Situation eigenverantwortlich zu verbessern. Während sie im Unterschied zur kapitalistischen Wirtschaftsweise das Prinzip der kollektiven Verantwortung betonten, setzten sie im Verhältnis zum Staat auf Eigenverantwortung und Subsidiarität.

Die beiden Beispiele zeigen, dass soziale Innovationen nicht zwingend als eine bahnbrechende, völlig neue Erfindung zu verstehen sind, sondern sich durch eine innovative Neuordnung bestehender gesellschaftlicher Strukturen entwickeln können. Das Wirtschaften – das heißt, die Produktion von Gütern und die Erbringung von (sozialen) Dienstleistungen – wird mit demokratischen Entscheidungsformen wie kollektiven Versammlungen, Konsens- oder Kompromissbildung, Mehrheitsentscheidungen und Wahlen so zusammengeführt, dass hybride Organisationsformen entstehen.

Hybride Organisationsformen: Katalysatoren für soziale Innovationen

An Genossenschaften und Wohlfahrtsverbänden ist besonders interessant, dass sie nicht nur das Ergebnis sozialer Innovationen sind, sondern gleichzeitig weitere innovative Lösungen entwickeln und verbreiten. Als hybride Organisationen sind sie Agenten des sozialen Wandels: Sie bringen Akteure aus unterschiedlichen Bereichen zusammen und fördern dadurch den Austausch und die Vernetzung verschiedener Perspektiven und Kompetenzen. Indem sie staatliche, zivilgesellschaftliche und marktwirtschaftliche Partner einbinden, überwinden sie sektorale Grenzen und können komplexe gesellschaftliche Herausforderungen ganzheitlich adressieren. Diese Interaktion ermöglicht es, innovative Lösungsansätze zu entwickeln, die aus den traditionellen Strukturen der einzelnen Sektoren nicht hervorgegangen wären.

Gesellschaft in der Polykrise: Die Rolle von sozialen Innovationen

Durch ihre Fähigkeit, Dienstleistungen an neue soziale Bedürfnisse anzupassen und innovative Lösungen für die Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit zu entwickeln, sind hybride Organisationen wie Genossenschaften und Wohlfahrtsverbände nicht nur von historischem Interesse. Auch in der heutigen Situation, die durch das Zusammentreffen mehrerer sich wechselseitig verstärkender Krisen – die sogenannte Polykrise – gekennzeichnet ist, können sie eine wichtige Rolle bei der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen spielen und dazu beitragen, die Gesellschaft resilienter zu gestalten.

Eine Gesellschaft wird resilient nicht durch das Festhalten an alten Strukturen, sondern durch ihre Fähigkeit, Krisensituationen als Chancen für soziale Innovationen zu nutzen. Das zeigen viele Studien zum Krisenmanagement. Herausforderungen wie die sozial-ökologische Transformation, die Digitalisierung der Gesellschaft, der demografische Wandel und die Integration von Menschen auf der Flucht lassen sich kaum ohne die Ideen und Ansätze jener Organisationen, die zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft agieren, bewältigen. Diese Organisationen sind es, die Kompromisse schaffen zwischen divergierenden Steuerungsformen und innovative Lösungen entwickeln, um gesellschaftliche Herausforderungen umfassend anzugehen.

Freiräume müssen erhalten bleiben

Damit aber hybride Organisationen Sozialinnovationen entwickeln und neue Lösungen erproben können, müssen sie die Fähigkeit besitzen, tatsächlich flexibel im Spannungsfeld zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft zu agieren. Die Geschichte zeigt, dass die Aufrechterhaltung einer hybriden Struktur ein permanenter Balanceakt ist, der leicht aus dem Gleichgewicht geraten kann. Ein wesentlicher bestimmender Faktor sind die Rahmenbedingungen, die der Staat durch regulative Vorgaben und Förderpolitik setzt. So stehen Wohlfahrtsverbände aufgrund der Sozialstaatsreformen der vergangenen Jahre unter einem erheblichen Effizienz- und Wettbewerbsdruck und haben hohe bürokratische Lasten, die durch die Regulierung der sogenannten Wohlfahrtsmärkte entstehen. Infolgedessen verschwimmt die spezifische Differenz dieses Organisationstypus sowohl zu unternehmerischen wie auch zu behördlichen Strukturen immer mehr – und damit auch die Autonomie dieser Organisationen, die für die Entwicklung und Umsetzung sozialer Innovationen notwendig ist.

Für die Förderung sozialer Innovationen bedeutet dies, dass die Rahmenbedingungen so gestaltet werden müssen, dass hybride Organisationen genügend Spielraum für kreative Lösungen und innovative Ansätze haben. Hierfür ist es entscheidend, dass Bürokratieabbau und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Regulierung und Eigenverantwortung die Handlungsfähigkeit dieser Organisationen stärken. Insbesondere sollten Anreizstrukturen geschaffen werden, die die Nutzung von Innovationspotenzialen fördern, ohne dabei die gemeinwohlorientierte Mission durch übermäßige Effizienzvorgaben zu gefährden. Darüber hinaus müssen staatliche Förderinstrumente und Regularien so angepasst werden, dass sie die spezifischen Bedürfnisse hybrider Organisationen berücksichtigen.

Nur wenn hybride Organisationen sowohl die Unterstützung staatlicher Akteure als auch die Freiräume zur eigenständigen Entfaltung erhalten, können sie ihre Rolle als wichtige Treiber sozialer Innovationen voll ausschöpfen und nachhaltig zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen.

Prof. Dr. Tanja Klenk ist Professorin für Verwaltungswissenschaften an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg und Stiftungsrätin der Stiftung Aktive Bürgerschaft.

Foto: Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr

Dieser Beitrag ist Teil des FOKUS SOZIALE INNOVATION GESTERN, HEUTE, MORGEN der bürgerAktiv – Nachrichten für Engagierte Oktober 2024 der Stiftung Aktive Bürgerschaft.

, Ausgabe 260 Oktober 2024, Fokus