SPIEGEL – SZ – ZEIT: “Wutbürger” oder “Mutbürger”?

Für die Protestierenden in Stuttgart findet Dirk Kurbjuweit im SPIEGEL 41/2010 vom 11.10.2010 das Schlagwort vom egoistischen “Wutbürger”: “Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker. Er zeigt sich bei Veranstaltungen mit Thilo Sarrazin und bei Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21.” Als Reaktion darauf antwortet Barbara Supp im SPIEGEL 42/2010 vom 18.10.2010 mit dem gemeinsinnorientierten “Mutbürger”: Der Stuttgarter Protest lege “den Finger auf die Wunde: das Fehlen von Transparenz in dieser Demokratie”. “Die Krise der repräsentativen Demokratie – dagegen hilft nicht Basta, sondern das Gegenteil eher: frühe Bürgerbeteiligung, Volksentscheide”, so Supp. Die Demonstrierenden seien die “Bürger, die er in Wahrheit braucht, dieser Staat”. – “Hat der Protest in Deutschland eine neue Qualität?” fragen Kai Biermann und Markus Horeld am 15.10.2010 auf ZEIT ONLINE. “Alles schon dagewesen”, ist die Meinung von Markus Horeld, der die Auseinandersetzungen um das Kernkraftwerk Wyhl in den 1970ern oder die Demonstrationen gegen Hartz IV Anfang der 2000er Jahre als bürgerliche Proteste aufzählt. “Neu ist der Wunsch nach Transparenz”, sagt hingegen Kai Biermann: “Ja, es gab in Deutschland schon immer Demonstrationen, auch große. Trotzdem ist ‘Stuttgart 21’ ein Symptom für einen Paradigmenwechsel. Denn die bisherigen indirekten Wege der Bürgerbeteiligung erscheinen vielen Menschen inzwischen als zu mühsam und veraltet. Sie wollen ihre Interessen nicht mehr nur durch Wahlen und Lobbygruppen vertreten sehen. Sie wollen auch selbst verhandeln”, so Biermann. – Heribert Prantl schreibt in der Süddeutschen Zeitung vom 02.10.2010 unter dem Titel “Demo, Demos, Demokratie”: “Man kann die Demonstrationen in Stuttgart als die vehemente Aufforderung an die Politik verstehen, zu überprüfen, ob sich aufgrund von neuen Erkenntnissen die Geschäftsgrundlage für das Projekt grundlegend verändert hat. Der Massenprotest ist also kein Angriff auf die repräsentative Demokratie. Womöglich ist er aber auch ein Vorgriff auf sich neu bildende Mehrheiten.”

, Ausgabe 106 Oktober 2010