Unsere Gesellschaft ist polarisiert, aber die Mitte ist breit und gesellschaftlicher Zusammenhalt wird tagtäglich praktiziert. Man muss ihn bloß sehen wollen und können, sagt der Soziologe Holger Backhaus-Maul von der Universität Halle-Wittenberg. Im Interview mit bürgerAktiv berichtet er über wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Arbeit des bundesweit verorteten Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt.
bürgerAktiv Alle sprechen von gesellschaftlichem Zusammenhalt. Was ist das eigentlich?
Holger Backhaus-Maul In der Wissenschaft fassen wir darunter alles, was dazu beiträgt, eine Gesellschaft zusammenzuhalten, also etwa Werte und Normen, Infrastrukturen und Handlungspraktiken. Politisch ist dieser vieldeutige Begriff sehr positiv belegt, aber wissenschaftlich schauen wir tiefer und auch kritisch darauf. Denn es gibt – grob vereinfacht – mindestens zwei Varianten des Zusammenhalts: einen sozialen, der Brücken baut über Milieus, Klassen und Nationen hinweg. Und andererseits eine Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenhalt, die nur bestimmte Gruppen oder Milieus einbezieht – etwa „deutsche weiße Männer“ oder die eigene Peer-Gruppe – und sich folglich von anderen abgrenzt. Insofern ist gesellschaftlicher Zusammenhalt wissenschaftlich betrachtet durchaus ambivalent.
bürgerAktiv Wie misst man den Zusammenhalt?
Holger Backhaus-Maul Man kann die Einstellungen von Bürgerinnen und Bürgern oder ihre Handlungspraktiken untersuchen. Im Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) befragen wir beispielsweise quantitativ und repräsentativ die Wohnbevölkerung in Deutschland zu ihren Einstellungen und Erfahrungen in allen Bereichen gesellschaftlichen Zusammenhalts von der eigenen Lebenssituation über das Wohnumfeld bis zur öffentlichen Infrastruktur. In den Antworten kristallisiert sich heraus, was die Bürgerinnen und Bürger unter gesellschaftlichem Zusammenhalt verstehen und was ihnen dabei wichtig ist.
Die andere Forschungsmethode ist qualitativ. Wir haben unter anderem Service Learning an Schulen und Hochschulen untersucht und Schülerinnen gefragt, was sie dort tun und ob sie auch mit anderen, ihnen fremden Milieus und Gruppen in Kontakt kommen. Da stellten sich neue Bezüge her, beispielsweise zu Menschen in einem Altenheim. Schüler sagten: Ich hab noch nie etwas mit alten Pflegebedürftigen zu tun gehabt. Oder: Ich hatte vorher keine Erfahrungen mit Menschen mit Beeinträchtigungen. Service Learning kann zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen, indem es Begegnungen mit bisher fremden sozialen Gruppen, Milieus und Schichten ermöglicht.
bürgerAktiv Das heißt, Zusammenhalt ist nicht erst die Bereitschaft sich zu unterstützen, sondern schon die Kenntnis voneinander.
Holger Backhaus-Maul Ja. Zusammenhalt hat viel damit zu tun, zu handeln, Erfahrungen zu machen und darüber nachzudenken; gerade in einer Gesellschaft, die wie die deutsche – medial aufgeputscht – zumindest in Teilen permanent aufgeregt zu sein scheint.
„Eine Spaltung wie in den USA anzunehmen, ist falsch.“
bürgerAktiv Ist die Gesellschaft gespalten?
Holger Backhaus-Maul Nein. Wir haben eine breite vielfältige Mitte, die grundlegende Überzeugungen teilt. Eine Spaltung im US-amerikanischen Sinne anzunehmen, wo sich in etwa gleichgroße Lager unversöhnlich gegenüberstehen, ist für die deutsche Gesellschaft völlig falsch. In der ersten großen Erhebung des FGZ, dem sogenannten Zusammenhaltspanel, haben Olaf Groh-Samberg und Kolleginnen eine gewisse Polarisierung festgestellt und konnten nachweisen, dass es Gruppenbildung gibt – ungefähr das, was man umgangssprachlich als „Blasen“ bezeichnet, in denen immer die gleichen mit den gleichen diskutieren, sich wechselseitig bestätigen und gegenüber der Außenwelt quasi einigeln.
In der aktuellen zweiten Phase des FGZ-Zusammenhaltspanels schauen wir stärker auf die Mitte der Gesellschaft. Wir reden von einem Anteil von über 70 Prozent, die zum Beispiel bereit sind, konkrete Maßnahmen zur Bewältigung der Effekte der Klimakrise mitzutragen. Bürgerinnen und Bürger zeigen sich informiert, dialog- und handlungsbereit; das Konstruktive und Pragmatische der Mitte der deutschen Gesellschaft wird derzeit verkannt.
bürgerAktiv Was braucht es, um die Ränder nicht weiter wachsen zu lassen und damit die Mitte breit bleibt?
Holger Backhaus-Maul Die Reizpunkte der Gesellschaft sollten medial und politisch nicht ständig bedient werden. Ob ein Veggie-Schnitzel Schnitzel heißen darf, ist so ein typisches Beispiel für einen Triggerpunkt, der dazu führt, dass die Polarisierung weitergetrieben wird. Sinnvoller wäre es, einen konstruktiven Blick auf die Mitte der Gesellschaft zu richten, denn sie hat ein massives Repräsentationsproblem. Ihre Anliegen werden im Parteiensystem nicht wirklich aufgegriffen. Wir erleben seit Jahrzehnten, dass Parteien, die sich selbst früher als Volksparteien verstanden haben, nicht mehr in der Lage sind, die profunden und zugleich differenzierten Interessen von Bürgerinnen und Bürgern zu erfassen und abzubilden. Die großen Parteien wie CDU und SPD schrumpfen – ihre Stammmitglieder, so Wolfgang Streeck bereits in den 1980er Jahren, sterben aus. Und in Ostdeutschland haben sie wenige Mitglieder und finden kaum Resonanz. Gleichzeitig gewinnen in Wahlen auf kommunaler Ebene häufiger parteiunabhängige Kandidaten und Kandidatinnen, übrigens auch gegen AfD-Kandidaten, wie jüngst etwa in Brandenburg und auch in Nordrhein-Westfalen. Ein gesamtdeutscher Trend …
„Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger muss gesellschaftspolitisch an Profil gewinnen.“
bürgerAktiv Was kann das bürgerschaftliche Engagement dazu beitragen, dass die Gesellschaft zusammenhält und die Mitte gestärkt wird?
Holger Backhaus-Maul Beispielsweise in Bürgerstiftungen, Selbsthilfegruppen oder Handlungsformen wie Service Learning können Bürgerinnen und Bürger ihre Anliegen gestalten und sie können auch mitentscheiden.
Wichtig ist aber, dass Kommunalpolitik Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt und diesen Mitgestaltungsmöglichkeiten tatsächlich auch eröffnet. Das ist eine wichtige Übung! Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland macht ja deutlich, dass Parteien an der Willensbildung des Volkes mitwirken. Das wird oft missverstanden. Manche Parteienvertreter meinen, dass die politische Willensbildung nur durch Parteien geschieht – eine folgenreiche Fehlinterpretation. Die organisierten Formen des Engagements von Bürgern sind ein wichtiges Instrument der Willensbildung, um die akute Repräsentationslücke der Mitte zu schließen.
Gleichwohl müssen aber auch die Formen des Engagements von Bürgerinnen und Bürgern gesellschaftspolitisch an Profil gewinnen. Im Engagement von Bürgerstiftungen und im Service Learning von Studierenden und Schülern geht es nicht nur um „die gute Tat“, sondern auch um gesellschaftspolitische Anliegen. Das muss man allerdings wollen und sich darüber klar werden. Wenn man sich mit weichen Brötchen bei einem Jahresempfang abspeisen lässt oder sich freut, wenn auf der Lokalseite steht, was man „Gutes“ getan hat, so ist das zu wenig, um gesellschaftspolitisch Wirkung zu entfalten.
Dr. Holger Backhaus-Maul ist Soziologe und Verwaltungswissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg und im bundesweiten Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ). Er ist Mitglied des Vorstands der Stiftung Aktive Bürgerschaft.
Im bundesweiten Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) betreiben seit 2020 acht Universitäten und drei außeruniversitäre Forschungseinrichtungen Grundlagenforschung und anwendungsnahe Forschung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. Am 13. November 2025 veröffentlicht das Institut seinen zweiten Zusammenhaltsbericht.
Die Fragen stellte Gudrun Sonnenberg.
Foto: Michael Lüder
Der Beitrag ist Teil des Fokus Zusammenhalten der bürgerAktiv – Nachrichten für Engagierte Oktober 2025 der Stiftung Aktive Bürgerschaft.