Zentrale Fragen lässt der Freiwilligensurvey unbeantwortet

Vollständig veröffentlicht ist er noch nicht, doch erste Erkenntnisse des Fünften Freiwilligensurvey sind bereits da. Dr. Holger Backhaus-Maul forscht selbst seit Jahren über bürgerschaftliches Engagement und hat sie sich genauer angesehen.

von Dr. Holger Backhaus-Maul

Endlich wurde die Veröffentlichung des Freiwilligensurveys 2019 für den Sommer dieses Jahres in Aussicht gestellt und vorab soeben eine Broschüre des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit ausgewählten Befunden veröffentlicht. Der Freiwilligensurvey ist eine repräsentative Dauerbeobachtung des individuellen Engagements in Deutschland, das seit 1999 alle fünf Jahre mittels eines standardisierten Fragebogens telefonisch erhoben wird und die deutsche Engagementdiskussion prägt. Grundsätzlich betrachtet ist der Freiwilligensurvey eine wertvolle Errungenschaft für die Erforschung und die Politik bürgerschaftlichen Engagements. Eine derartige Dauerbeobachtung verspricht unter Bedingungen sozialen Wandels vor allem Kontinuität und begibt sich daneben auch auf die Suche nach kleinen Veränderungen.

Rein digitales Engagement ist die absolute Ausnahme

Die aktuellen Befunde des neuen Freiwilligensurveys aus der „lange zurückliegenden Zeit vor Corona“ signalisieren Kontinuität. Vor dem Hintergrund einer stabilen Engagementquote quantifiziert der Freiwilligensurvey schlicht soziale Wandlungsprozesse, die sich selbstverständlich auch im Engagement niederschlagen. So setzen sich die Trends zu Gunsten eines zeitlich kürzeren Engagements, einer Abnahme des Engagements in klassischen formalen Organisationen, einer Angleichung der Engagementquoten von Frauen und Männern, einer unterdurchschnittlichen Engagementquote bei älteren Menschen und einer Annäherung der Engagementquote Ostdeutschlands an die der alten Bundesländer fort.

Relativ spät erst nimmt der Freiwilligensurvey die Digitalisierung im Engagement in den Blick. Dabei wird deutlich, dass Digitalisierung das Engagement gleichsam wie alle anderen Lebensbereiche der Gesellschaft durchzieht. Quasi en passant wird dabei mit dem Mythos eines rein digitalen Engagements aufgeräumt, dem sich weniger als 2% der Engagierten zuordnen.

Fehler der Vergangenheit

Seit 2014 wird der Freiwilligensurvey von einem Bundesinstitut, dem Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) unter Leitung von Prof. Dr. Tesch-Römer durchgeführt. Mit Beginn seiner Arbeit am Freiwilligensurvey hat das DZA – gegen wissenschaftliche Einwände – den Erhebungsgegenstand Freiwilliges Engagement auf alle öffentlichen gemeinschaftlichen Aktivitäten ausgeweitet. So wurden selbst schlichte nachbarschaftliche Hilfen „über den Gartenzaun“ unter dem Begriff des freiwilligen Engagements subsummiert. Die gesellschaftliche Dimension des Engagements wurde damit als Unterscheidungskriterium ad acta gelegt. Stattdessen wurde jede alltägliche informelle Hilfe zwischen Menschen bereits zum Engagement erklärt. Die negativen Folgen dieser Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes waren ein inhaltlicher Bruch in der Dauerbeobachtung und ein – angesichts des nunmehr weit gefassten Engagementbegriffs – erheblicher Anstieg der Engagementquote auf beachtliche 43,6% (2014), – was Politikerinnen und Politiker mit Stolz erfüllte und Expertinnen und Experten mit Kopfschütteln quittierten.

Der aktuelle fünfte Freiwilligensurvey kommt quasi als Auftakt mit einer methodischen Erkenntnis und zugleich Abbitte daher. Im Sample sind höher gebildete Bevölkerungsgruppen überrepräsentiert, lautet die Selbsterkenntnis. Der Faktor Bildung ist jetzt im Sample des Freiwilligensurveys für das Jahr 2019 und retrospektiv auch für das Jahr 2014 entsprechend gewichtet und die Engagementquote für beide Jahre mit demselben Wert (39,7%) um fast 4% niedriger veranschlagt worden. Müssen Politikerinnen und Politiker jetzt weniger stolz sein und können Expertinnen und Experten zustimmend nicken? Ist eine Engagementquote von 39,7% viel, wenig oder genau richtig? Was sind theoretisch-konzeptionelle und qualitative Bewertungsmaßstäbe und was bedeutet diese Zahl im innerdeutschen, innereuropäischen und internationalen Vergleich? Die schlichte Zahl an sich ist deutungsoffen und deren wissenschaftliche Analyse und Interpretation stehen noch weitgehend aus.

Qualitative Analysen fehlen

Die methodisch-fachlichen Grenzen des Freiwilligensurveys als einer quantitativen Personenbefragung werden auf der Organisations- und Gesellschaftsebene überdeutlich. Während der Freiwilligensurvey eine abnehmende Organisationsbindung von Engagierten konstatiert, kommen qualitative Organisationsstudien zu dem Ergebnis, das Engagierte jenseits des klassischen Vereins neue Formen der Selbstorganisationen und Vergemeinschaftung praktizieren, so dass Engagement selbstverständlich immer noch – wenn auch in veränderter Art und Weise – als organisiertes Engagement zu verstehen ist. In gesellschaftlicher Hinsicht wäre es jenseits schlichter quantitativer Einstellungsfragen und nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines weit verbreiteten Rechtspopulismus darüber hinaus von Interesse, welche Vorstellungen Engagierte von Demokratie und Gesellschaft haben und welche konkreten Beiträge sie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten.

Für die methodisch sorgfältige und deskriptive Dauerbeobachtung individuellen Engagements verdienen der Freiwilligensurvey und seine Autorinnen und Autoren Lob und Anerkennung. Aber wer mehr und anderes will, muss auch mehr und anders forschen. So ist das DZA ein Bundesforschungsinstitut, dass vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird. Die in der entsprechenden Auftragsforschung gewonnenen Erkenntnisse – so das Selbstverständnis des DZA – dienen der Sozialberichterstattung und Politikberatung.

Grenzen der Auftragsforschung

Eine unabhängige wissenschaftliche Erforschung bürgerschaftlichen Engagements hingegen könnte sich im Vergleich dazu mit grundlegenden Fragen von Engagement, Individuum, Organisation und Gesellschaft kritisch, ergebnisoffen und in der gebotenen sozialwissenschaftlichen Breite und Tiefe auseinandersetzen. Eine derart grundlegende wissenschaftliche Untersuchung von Engagement wäre auch nicht nur auf eine quantitative Datenerhebung verengt, sondern könnte insbesondere auch qualitativ forschen und die empirischen Befunde theoretisch-konzeptionell verorten.

Die entsprechenden Fragen stehen seit Jahren und trotz des Freiwilligensurvey weitgehend unbeantwortet auf der wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Agenda:

  • Wie lassen sich die Verlaufsmuster im Engagement, das Auf und Ab zwischen Engagement und Enttäuschung, erklären?
  • Wie verändern sich Organisationsformen des Engagements?
  • Welche organisationalen und institutionellen Strukturen wirken sich wie auf das Engagement aus?
  • Welche gesellschaftlichen Vorstellungen und Handlungsformen bilden sich im Engagement heraus?
  • Wie wirken sich unterschiedliche ordnungs- und gesellschaftspolitischen Bedingungen auf die Entwicklung von Engagement aus?

Diese und andere grundlegende Fragen von Engagement und gesellschaftlichem Zusammenhalt sind wohlgemerkt nicht durch staatliche Auftragsforschung und behördliche Sozialberichterstattung zu bearbeiten, sondern verweisen auf eine theoretisch-konzeptionell und qualitativ-empirisch ausgewiesenen Sozialforschung im Wissenschaftssystem.

Kommentar von Dr. Holger Backhaus-Maul für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 221 – April 2021 vom 30.04.2021

Ausgabe 221 April 2021, Kommentare und Analysen