Zivilgesellschaft wagen!

Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung eröffnet Chancen, etwas zu verändern. Nicht nur die Politik, auch die Bürgerinnen und Bürger sollten sie ergreifen, meint Holger Backhaus-Maul.

Von Holger Backhaus-Maul

Koalitionsverträge sind Verträge mit begrenzter Verbindlichkeit und kurzer Laufzeit. Denn parteipolitische Prioritären ändern sich in Krisenzeiten schnell und eine Legislaturperiode dauert in der Regel auch nur vier Jahre. Wer also in Koalitionsverträgen Konzepte und Strategien erwartet, wird enttäuscht. Stattdessen wird „Fortschritt wagen“ versprochen. Der aber findet sowieso und zumeist hinter dem Rücken von Politik statt.

Was aber von der neuen Regierungskoalition – zumindest von Grünen und Liberalen – zu erwarten ist, sind neue ordnungspolitische Überlegungen zum Verhältnis von Staat und (Zivil-) Gesellschaft. Welche Rolle und Bedeutung weist die neue Bundesregierung Bürgerinnen und Bürgern, dem organisierten Engagement und der Zivilgesellschaft zu? Engagementförderung wird im Koalitionsvertrag als Querschnittaufgabe verstanden. Alle Ministerien dürfen sich zuständig fühlen. Aber niemand koordiniert und führt. Fachpolitisch liegen das Bundeskanzleramt und das Bundesinnenministerium nahe, personelle Kompetenzen finden sich im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, zugewiesen wird es wohl wieder dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Vor diesem Hintergrund stellen sich konkrete Fragen: Wird es im Deutschen Bundestag in absehbarer Zeit einen Vollausschuss „Demokratie und bürgerschaftliches Engagement“ geben, so dass Engagementpolitik nach über zwanzig Jahren zumindest aus der eingehegten Spielecke eines Unterausschusses Gleichgesinnter in den Mittelpunkt gesellschaftspolitischer Diskussionen und Auseinandersetzungen rückt? Soll die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) als öffentlich-rechtliche Stiftung die Zivilgesellschaft „politisch steuern“ oder soll sie deren Eigensinn und Eigendynamik finanziell fördern? Wird die Abgabenordnung von historischem Ballast entrümpelt und die gesellschaftspolitische Betätigung gemeinnütziger Organisationen endlich steuerrechtlich anerkannt?

Im Kern geht es darum, die Abhängigkeit der Zivilgesellschaft vom Staat zu lockern und ihr mehr Eigenständigkeit einzuräumen, auch wenn an einigen Stellen im Koalitionsvertrag die Vorstellung aus längst vergangenen Zeiten fröhliche Urstände feiert, dass die Zivilgesellschaft in staatliches Handeln einzubinden sei. Erschwerend kommt hinzu, dass das Politikfeld Engagement im Deutschen Bundestag kaum personelle Kontinuität aufweist, sondern allenfalls neuen Bundestagsabgeordneten ohne dezidierte Machtambitionen einen Einstieg in die parlamentarische Arbeit bietet. Aber nichtsdestotrotz ermöglicht der aktuelle Koalitionsvertrag nach wie vor die Einrichtung eines Bundestagsvollausschusses, die gesellschaftspolitische Renovierung des Gemeinnützigkeitsrechts und nicht zuletzt die Profilierung der DSEE als echte Förderstiftung. Es wird sich jetzt zeigen, ob die fragmentierte Zivilgesellschaft – unter parteipolitisch wahrlich günstigen Bedingungen – Macht und Einfluss hat und auch arbeitsteilig gemeinsam ausüben kann.

„Fortschritt wagen“ im Sinne des Koalitionsvertrages wäre es beispielhaft, wenn die wissenschaftliche Erforschung von Engagement und Zivilgesellschaft adäquat gefördert werden würde. So wollte die alte Bundesregierung mit der DSEE auch Forschung fördern, unterlief aber mit einer Fördersumme von bis zu 50.000 Euro bei einjähriger Laufzeit ihre eigenen arbeits- und tarifrechtlichen Standards sowie forschungspolitischen Selbstverpflichtungen. Der neuen Bundesregierung bietet sich hier eine forschungspolitische Gelegenheit par excellence, indem sie die DSEE generell als Förderstiftung profiliert und eine wissenschaftliche Engagementforschung entsprechend den Standards des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ermöglicht.

Warum also jetzt nicht so etwas wie bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft wagen? Es ist es an Bürgerinnen und Bürgern, organisiertem Engagement und Zivilgesellschaft, das kleine Zeitfenster zur politischen Verortung von Engagement und Zivilgesellschaft in der Bundesregierung und im Bundestag, zur Renovierung des Gemeinnützigkeitsrechts und zur Profilierung der DSEE als Förderstiftung in einem wohlverstandenen Gemeinwohl- und Eigeninteresse schnellstmöglich zu nutzen.

Kommentar von Dr. Holger Backhaus-Maul für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 228 – November Dezember 2021 vom 15.12.2021

Bitte beachten Sie auch die noch folgenden Kommentare von Dr. Stefan Nährlich und Dr. Rudolf Speth zu weiteren Aspekten des Koalitionsvertrages.

Ausgabe 228 November-Dezember 2021, Kommentare und Analysen