Hintergrund: „Closed Shops“ in der deutschen Gesellschaft

Polarisierung, Spaltung und Gefährdung des sozialen Zusammenhalts sind medial allgegenwärtige Schlagworte. Nur gut, dass das bundesweite Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt soeben seinen ersten Zusammenhaltsbericht vorgelegt hat. Eine Einordnung, eine kritische Frage an aktive Bürgerinnen und Bürger und weiterer Forschungsbedarf.

Von Holger Backhaus-Maul

Mit dem zuerst vor allem in Ostdeutschland verstärkt öffentlich auftretenden Rechtspopulismus und -radikalismus hat der Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf Seiten politischer Parteien hohe Aufmerksamkeit und vielfache Verwendung gefunden – obwohl der Begriff deutungsoffen und relativ inhaltsleer ist. Oder vielleicht gerade deswegen? Denn er signalisiert normativ Positives und verspricht Ordnung in einer bisweilen überfordert erscheinenden Gesellschaft.

In dieser unübersichtlichen Gemengelage versprach sich die große Koalition aus CDU und SPD „Rat und Tat“ von den Sozial- und Geisteswissenschaften und forderte sie auf, in wissenschaftlicher Freiheit das Phänomen theoretisch-konzeptionell zu ergründen und empirisch zu vermessen. Das bundesweite Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) mit rund 200 wissenschaftlich Mitarbeitenden an elf Universitätsstandorten war damit ins Leben gerufen.

Krisen mit gravierenden Folgen

Was also trennt und was fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland? Der soeben vorgelegte erste Zusammenhaltsbericht des FGZ unter Leitung von Olaf Groh-Samberg geht dieser Frage vor dem Hintergrund der aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatte mit bewährten quantitativen Instrumenten und Verfahren nach. Soziologen und Politikwissenschaftler wie Steffen Mau, Wolfgang Merkel, Armin Nassehi, Philipp Staab, Armin Schäfer, Uwe Schimank und Michael Zürn verweisen auf multiple Krisen, die sich häufen und in immer schnellerer Folge auftreten – mit gravierenden Folgen für Demokratie, Sozial- und Rechtsstaat sowie nicht zuletzt eben gesellschaftlichen Zusammenhalt. Medial aufgeheizt polarisieren sich die politischen Ränder der Gesellschaft, während sich die breite und zugleich heterogene Mitte der Gesellschaft in politischer Enthaltsamkeit und Anpassung an die veränderte Situation und Weltlage zu üben scheint.

Auf einer breiten empirischen Grundlage von 12.000 Befragten widmet sich der Zusammenhaltsbericht des FGZ den Beziehungen, den Interaktionen zwischen einander Bekannten und geht der Frage nach, ob es zu milieuübergreifenden – anderen Menschen gegenüber aufgeschlossenen – Interaktionen kommt oder soziale Schließung unter Gleichen praktiziert wird. Wie kommen Interaktionen zwischen Bekannten zustande, wie setzen sich Bekanntenkreise zusammen und kommt es dabei zu Kontakten über den eigenen Bekanntenkreis hinaus? Grundlegend geht es also darum, inwiefern welche sozialen Beziehungen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland beitragen oder ihn unterlaufen.

Die Autoren und Autorinnen des FGZ-Berichts gehen dabei davon aus, dass in Interaktionen unter Bekannten Homophilie, das heißt, eine Vorliebe für Menschen, die einem selbst ähnlich sind, zum Tragen kommt, sodass sich soziale Netzwerke tendenziell abgrenzen und alltägliche Lebenswelten sich sukzessiv entkoppeln. Soziale und räumliche Ungleichheiten in Deutschland verstärken diese Tendenzen zur „Netzwerksegregation“ und „Entkoppelung“ von Lebenswelten. Die deutsche Gesellschaft als instabile Ansammlung von „closed shops“?

Die Eigenart, „unter sich“ zu bleiben, ist sowohl bei (potenziellen) Wählerinnen und Wählern der Grünen als auch der AfD besonders stark ausgeprägt: 50 Prozent der potenziellen AfD-Wähler berichten, dass sich ihr Bekanntenkreis überwiegend aus AfD-Anhänger zusammensetzt; von den potenziellen Wählern der Grünen bewegen sich sogar 62 Prozent unter politisch Gleichgesinnten. Der letztgenannte Befund verdient besondere Aufmerksamkeit, da sich die Grünen normativ als weltoffen und universalistischen Werten verpflichtet präsentieren, während ihre potenziellen Wähler in hohem Maße soziale Schließung praktizieren – die Spannung zwischen prozessierten Normen und alltäglichem Habitus ist erheblich. Im Zusammenhaltsbericht identifizieren die Autorinnen und Autoren muslimischen Glauben, geringe Bildung und ländliche Wohnumgebung als weitere Faktoren, die gruppenspezifische Segregationen beziehungsweise relative soziale Schließungen in Bekanntenkreisen begünstigen; mit Abstand gefolgt von ostdeutsch, reich und hochgebildet.

Eine förderfähige Preisfrage

Ein erster Zusammenhaltsbericht des FGZ, der das Trennende herausarbeitet! So bleibt die politische und auch wissenschaftliche Ausgangsfrage, was die Gesellschaft zusammenhält, zunächst unbeantwortet. Nach einem ersten Zusammenhaltsbericht ist aber mindestens ein zweiter Bericht, wenn nicht gar eine fortlaufende Berichterstattung, zu erwarten, zumal sich die zweite Förderphase des FGZ von 2024 bis 2029 erstreckt. Gleichwohl wäre jetzt zu fragen, welche konkreten Handlungspraxen es in der deutschen Gesellschaft gibt, die mehr oder minder zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen. Bürgerstiftungen und Service Learning wären hier Untersuchungsgegenstände par excellence. Die förderfähige Preisfrage lautet somit, begünstigen Bürgerstiftungen und Service Learning Engagement unter Gleichen und soziale Segregation oder forcieren sie milieuübergreifende Interaktionen und damit gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Dr. Holger Backhaus-Maul ist Soziologe und Fachgebietsleiter an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Kommentar von Dr. Holger Backhaus-Maul für bürgerAktiv – Nachrichtendienst Bürgergesellschaft, Ausgabe 250 – November-Dezember 2023 vom 13.12.2023

 

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