Fokus März 2024: Junge Menschen für Engagement begeistern und die Demokratie stärken

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Menschen, die sich engagieren und Verantwortung übernehmen, sind die tragenden Säulen der Demokratie. Doch beklagen viele zivilgesellschaftliche Organisationen, dass es schwieriger wird, genügend Ehrenamtliche zu finden, vor allem, wenn es um Funktionsträger geht wie Vorstände oder Kassenwarte.

Denn einerseits macht sich der demographische Wandel bemerkbar: Es wachsen weniger junge Menschen nach, und sie haben weniger Zeit – von der Ganztagsschule über die Verschulung von Studiengängen, Doppelbelastungen in Familie und Beruf bis zu weiten Fahrwegen reichen die Hürden. Eine wachsende Zahl von Menschen zieht informelles Engagement oder auch punktuelles Engagement dem Mitarbeiten in etablierten Strukturen vor.

Es gilt also, passende Angebote zu machen. Gute Beispiele zeigen, wie es gelingen kann, junge Menschen für gesellschaftliches Engagement zu gewinnen. Unsere Expertin Annette Zimmer sagt im Interview: Es liegt auch an den Engagierten selbst, wie offen sie wirklich sind.

Lesen Sie dazu diese Fokusbeiträge:

Viele junge Engagierte, trotzdem Nachwuchssorgen: Engagement in Zahlen

Wie sieht das Engagement junger Menschen aus, wo und wie engagieren sie sich? Die Zahlen aus einschlägigen Befragungen zeigen, dass beim Nachwuchs die Bereitschaft, etwas für das Gemeinwohl zu tun, hoch ist. Doch so ganz passen der Bedarf der gemeinnützigen Organisationen und die Bedürfnisse jüngerer Menschen nicht zusammen.
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Mitmachen und entscheiden lassen

Mit einer Jugendbürgerstiftung hat die Bürgerstiftung Sindelfingen junge Menschen ins Boot geholt. Hier machen die jungen Leute eigenständig Projekte und ziehen neue Interessenten an.
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„Manche bleiben“

Im Gast-Haus in Dortmund kümmern sich ehrenamtlich Engagierte um Menschen in Not, Obdachlosigkeit und prekären Lebenslagen. Der Verein setzt bei der Suche nach Helfern auch auf die Zusammenarbeit mit Schulen.
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Extraangebote für die Jugend

Große Organisationen versuchen, mit eigenen Jugendorganisationen den jungen Menschen Räume zu eröffnen. Niedrigschwellige Angebote zielen darauf ab, den Einstieg zu erleichtern. Drei Beispiele.
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„Kompetenzerwerb stärker thematisieren“

Die Politikwissenschaftlerin Annette Zimmer, Seniorprofessorin an der Universität Münster, spricht im Interview mit bürgerAktiv über Nachwuchsprobleme gemeinnütziger Organisationen und über Strategien, um junge Menschen zum Mitmachen zu gewinnen.
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Mehr zum Thema

bürgerAktiv Magazin 2023/24 der Stiftung Aktive Bürgerschaft mit Geschichten über das Engagement junger Menschen in sozialgenial-Mitgliedsschulen:
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Viele junge Engagierte, trotzdem Nachwuchssorgen: Engagement in Zahlen

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Wie sieht das Engagement junger Menschen aus, wo und wie engagieren sie sich? Die Zahlen aus einschlägigen Befragungen zeigen, dass beim Nachwuchs die Bereitschaft, etwas für das Gemeinwohl zu tun, hoch ist. Doch so ganz passen der Bedarf der gemeinnützigen Organisationen und die Bedürfnisse jüngerer Menschen nicht zusammen.

Laut Deutschem Freiwilligensurvey, der zuletzt 2019 erschien und nach dem Engagement in den vergangenen zwölf Monaten fragte, engagieren sich knapp 40 Prozent der Deutschen über 14 Jahre, gut die Hälfte von ihnen in Vereinen oder Verbänden. Bei den 14- bis 29-Jährigen lag die Engagementquote bei 42 Prozent.

Jüngere kleinere Befragungen zeichnen ein noch positiveres Bild: So gaben in der Befragung „u_count“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) 2022 zwei Drittel der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, sich in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal ehrenamtlich engagiert zu haben. Bei 55 Prozent liegt die Quote in der Erhebung „Rein digital, nur gelegentlich oder im Ausland? Neue Formen des freiwilligen Engagements junger Menschen in Stadt und Land“ die 2023 die Ruhr-Universität Bochum (RUB) in fünf Regionen und Städten durchgeführt hat.

Unterschiedliche Formen

Hinter den Zahlen verbergen sich verschiedene Formen des Engagements. Thematisch dominieren Sport und Bewegung, Freizeitveranstaltungen, Bildungsarbeit und Kultur. Laut Freiwilligensurvey engagieren sich Menschen mit höherer Bildung doppelt so häufig wie Menschen mit geringer Bildung.

Von der Organisationsform her haben die Vereine die Nase vorn. In der „u_count“-Befragung sind 62 Prozent der befragten jungen Menschen regelmäßig in einem Verein aktiv gewesen. Auch die in der RUB-Studie Befragten haben sich vorwiegend in einer Organisation engagiert, und dies auch regelmäßig – beispielsweise als Co-Trainer, Tierpfleger, Auf- und Abbau bei Veranstaltungen. Seltener jedoch waren sie administrativ tätig, etwa als Kassenwart oder in einer leitenden Funktion. Rund 40 Prozent der in der RUB-Studie Befragten haben sich „episodisch“, also anlass- oder ereignisbezogen und damit einmalig engagiert. Dieses Engagement fand wiederum häufig in einem Verein oder einer anderen Organisation statt.

Viele Organisationen ohne junge Menschen

Der ZiviZ-Survey 2023, die repräsentative Organisationsbefragung des Think-Tanks Zivilgesellschaft in Zahlen (ZiviZ), schaut aus der Sicht der Organisationen auf die jungen Engagierten und stellt fest: Weniger als die Hälfte der dort befragten Organisationen hat in ihren Leitungspositionen Menschen unter 30 Jahren, 42 Prozent der Organisationen hat keine Engagierten zwischen 18 und 30 Jahren in ihren Reihen. Die meisten jüngeren Engagierten verzeichnen Sportvereine und die Katastrophenhilfe.

Jugend möchte ernst genommen werden

In der „u_count“-Studie äußerten manche der jungen Befragten den Eindruck, nicht für voll genommen zu werden. Hier kam auch zum Ausdruck, dass junge Menschen sich mehr Mitbestimmung wünschen, wenn sie sich engagieren – also bei der Finanzplanung oder Veranstaltungsorganisation im Verein mitwirken möchten. „Der Bürgermeister fragt die Jugendlichen zwar und nimmt ihre Wünsche auf, aber die Umsetzung dauert lange“, zitiert „u_count“ eine Befragte.

Text: Gudrun Sonnenberg

Zum Freiwilligensurvey
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Zur Studie der RUB
Zum ZiviZ-Bericht

 

Mitmachen und entscheiden lassen

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Mit einer Jugendbürgerstiftung hat die Bürgerstiftung Sindelfingen junge Menschen ins Boot geholt. Hier machen die jungen Leute eigenständig Projekte und ziehen neue Interessenten an.

Bis 3 Uhr nachts zu lauter Musik tanzen: Das stößt bei den älteren Teilen der Bevölkerung auf wenig Gegenliebe. Bei jungen Menschen dafür umso mehr. Damit diese sich mal so richtig austoben können und nicht spätestens um Mitternacht von ruhebedürftigen Anwohnern unterbrochen werden, organisiert die Jugendbürgerstiftung Sindelfingen neuerdings eine „Silent Disco“, bei der die Gäste die Musik nicht über Lautsprecher, sondern über Kopfhörer hören, und zusammen tanzen.

Die Idee hatten junge Frauen aus Stuttgart mitgebracht. In der Jugendbürgerstiftung konnten sie sie ausprobieren. Beim dritten Abend fanden sich schon hundert junge Leute ein. Zweimal im Jahr soll das Event stattfinden. Schöner Nebeneffekt: Es sind über die Disco – und auch über andere Events – neue junge Leute auf die Jugendbürgerstiftung aufmerksam geworden und ihr beigetreten. 26 Köpfe zwischen 16 und 29 Jahren zählt jetzt das Team, und sie engagieren sich hier für das, was die Älteren allzu oft übersehen, die Interessen junger Menschen.

Eigenes Budget

Genau dafür hatte die Bürgerstiftung Sindelfingen 2013 die Jugendbürgerstiftung ins Leben gerufen: Um junge Leute zum Mitmachen zu bewegen – aber vor allem, um sie machen zu lassen. Mit einem Budget von 3000 Euro im Jahr können sie eigene Projekte planen und umsetzen oder andere Initiativen fördern. Bei Letzterem helfen die Mitglieder der Jugendbürgerstiftung entweder selbst, etwa, indem sie bei Veranstaltungen von Vereinen den Getränkeausschank übernehmen. Oder sie unterstützen finanziell, etwa das Planspiel „MUNOG “ am Goldberg Gymnasium, bei dem Schülerinnen und Schüler in die Rollen von Staaten in der UNO-Vollversammlung schlüpfen. Manchmal helfen sie auch bei Projekten der Bürgerstiftung Sindelfingen aus. Zum Beispiel, wenn Sindelfinger Schulen in der „Schlau-Schau“ im Einkaufzentrum naturwissenschaftliche Projekte präsentieren.

Patrick Schmid, der aktuelle Vorstandsvorsitzende der Jugendbürgerstiftung (im Foto mit seiner Vorstandkollegin Nicola Koroll), ist seit dreieinhalb Jahren dabei. Ihn habe die breite Palette der Möglichkeiten von Sport über Kultur bis zu sozialen Themen angezogen: „Jeder kann ein Projekt finden, das zu ihm passt“, sagt er. „Die Bürgerstiftung lässt uns unsere Erfahrungen machen, wir werden nie gebremst. Bei uns dürfen auch 16-Jährige ihre Euphorie ausleben. Für uns ist es toll, dass wir so ein Vertrauen genießen.“

„Wir beraten, aber wir lassen sie selbst entscheiden“, sagt Heike Stahl, eine von zwei Vorständen der Bürgerstiftung, die für die Jugend zuständig sind. Manchmal gehört etwas Nervenstärke dazu sich zurückzuhalten, etwa, wenn man selbst schon längst mit einer Planung anfangen würde und die Jugendlichen erst auf den letzten Drücker aktiv werden. „Sie planen halt kurzfristiger“, sagt Stahl.

Hybrid gegen Fluktuation

Der Zulauf gibt aktuell jedenfalls dem Konzept „Machen lassen“ recht. Um die Fluktuation gering zu halten, die automatisch durch das Ende der Schulzeit, Ortwechsel wegen Studium oder Ausbildung entsteht, kommuniziert die Jugendbürgerstiftung hybrid – so können auch die Mitglieder mitreden, die für ein paar Jahre nach Berlin oder anderswohin gegangen sind.

Jedenfalls, bis sie 30 sind. Dann ist in der Jugendbürgerstiftung Schluss – aber das soll nicht das Ende sein: Die Bürgerstiftung hofft, dass sich der Nachwuchs dann in der Bürgerstiftung weiter engagiert. Für den 28-jährigen Patrick Schmid ist das auf jeden Fall eine Option. Was auf ihn zukäme, weiß er schon, denn als Vertreter der Jugendbürgerstiftung ist er regelmäßig bei den Vorstandssitzungen der Bürgerstiftung dabei – und sorgt dafür, dass der Blick der Jugend auf die Projekte nicht zu kurz kommt.

Text: Gudrun Sonnenberg

Zur Jugendbürgerstiftung Sindelfingen
Zur Bürgerstiftung Sindelfingen

„Manche bleiben“

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Im Gast-Haus in Dortmund kümmern sich ehrenamtlich Engagierte um Menschen in Not, Obdachlosigkeit und prekären Lebenslagen. Der Verein setzt bei der Suche nach Helfern auch auf die Zusammenarbeit mit Schulen.

„Es ist wichtig, junge Menschen für Armut zu sensibilisieren und ihnen zu zeigen, dass nicht immer alles Plan läuft im Leben“, sagt Eva Bahr, Ehrenamtskoordinatorin beim Gast-Haus e.V. Doch nicht nur wegen des Abbaus von Vorurteilen gegenüber seinen hilfsbedürftigen Gästen schätzt das Gast-Haus, wenn Schülerinnen und Schüler sich hier engagieren. Es gilt auch, immer wieder neue Mitstreiter zu finden. Um jüngere Menschen auf sich aufmerksam zu machen, kommuniziert das Gast-Haus in den sozialen Medien und öffnet seine Türen gerne für Schulprojekte wie beispielsweise den „Sozialgenial-Projektkurs“ des Reinoldus- und Schiller-Gymnasiums in Dortmund. Dessen Schülerinnen und Schüler engagieren sich im Rahmen des Programms sozialgenial der Stiftung Aktive Bürgerschaft für die Einrichtung, indem sie Handtücher aus dem nahegelegenen Solebad herbeischaffen, die dort vergessen und gereinigt wurden. Sie werden den Menschen zur Verfügung gestellt, die das Gast-Haus aufsuchen.

Nach dem Schulprojekt geht es weiter

Schülerinnen und Schüler aus den Dortmunder Schulen absolvieren auch Praktika im Gast-Haus. „Manche bleiben danach bei uns“, freut sich Eva Bahr, „sie machen nach dem Schulprojekt oder Praktikum weiter. Einer unserer ehrenamtlichen Zahnärzte kommt sogar ursprünglich aus einem Schulprojekt.“

Das Gast-Haus startete vor 27 Jahren rein ehrenamtsbasiert mit 15 Engagierten. Man bot zweimal Frühstück für Menschen in Armut an. Inzwischen gibt es jeden Tag Frühstück, nachmittags Suppe, außerdem Duschmöglichkeiten, eine Kleiderkammer, ärztliche Versorgung, Beratung und vieles mehr. Mit dem Wachstum konnten viele Ehrenamtliche gewonnen werden, 350 Freiwillige sind inzwischen im Pool. Eine beeindruckende Zahl, doch es gibt ja auch viel zu tun: Allein sieben Teams braucht es, um das tägliche Frühstück zu gewährleisten. Und es haben nicht alle Ehrenamtlichen gerade dann Zeit, wenn sie gebraucht werden, manche müssen ausscheiden, andere bekommen Kinder, wechseln den Beruf oder können nur punktuell helfen.

Offenheit lohnt sich

So braucht es immer wieder Neu-Einsteiger, die das Gast-Haus auch über seine Kommunikation in den Sozialen Medien gewinnt. Die Offenheit für junge Leute lohnt sich. Die Schulen kommen von sich aus mit ihren Projekten auf das Gast-Haus zu, es ist bekannt. Und natürlich trägt zur erfolgreichen Gewinnung Ehrenamtlicher auch die Sache selbst bei: „Armut ist ein großes Problem, und es wird leider immer größer“, sagt Eva Bahr, „es beschäftigt viele Menschen.“

Text: Gudrun Sonnenberg

Zum Gast-Haus
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Extraangebote für die Jugend

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Große Organisationen versuchen, mit eigenen Jugendorganisationen den jungen Menschen Räume zu eröffnen. Niedrigschwellige Angebote zielen darauf ab, den Einstieg zu erleichtern. Drei Beispiele:

Die Caritas steht vermutlich nicht an erster Stelle der Aufmerksamkeit junger Menschen, die sich engagieren möchten. Deshalb wendet sich die traditionelle Wohlfahrtsorganisation seit 2013 mit der „youngcaritas“ explizit an Menschen zwischen 13 und 27 Jahren. Das Konzept wurde aus Österreich und der Schweiz adaptiert. Die Angebote bemühen sich um Niedrigschwelligkeit. Sie reichen vom Workshop zum Thema „Armut“ in Hamburg mit anschließender „Sozialaktion“ über die Mitwirkung in einer Smartphone-Sprechstunde für Seniorinnen und Senioren in München, einem Sprachcafé und Upcycling-Workshops in Mannheim bis zu Kochen für wohnungslose Menschen in Berlin.

Eine extra Jugendorganisation hat auch der Naturschutzbund Deutschland (NABU) mit der NAJU – Naturschutzjugend. Nach eigenen Angaben gibt es mehr als 1000 NAJU-Gruppen in Deutschland, die mit Mitmachaktionen 13- bis 27-Jährige ansprechen wollen. Angeboten werden Mitmachaktionen wie etwa ein „Ostereinsatz“ im Spreewald samt Müllsammelaktion, aber auch Wettbewerbe, Workshops und Qualifikationen etwa zum Jugendleiter. Die NAJU hat darüber hinaus auch eigene Delegierte zur Weltklimakonferenz entsendet.

Mit publikumswirksamen Aktionen machen auch immer wieder Feuerwehren auf ihren Bedarf an jungen Mitstreitern aufmerksam. So gewann im Mai 2023 die Freiwillige Feuerwehr Waischenberg einen Sonderpreis „Ehrenamt und Nachwuchs“ des Bayerischen Demografiepreises, weil sie eines ihrer Feuerwehrfahrzeuge originalgetreu in Kindergröße nachbaute. Mit extra Kinderfeuerwehren versuchen offenbar zahlreiche Freiwillige Feuerwehren, den Nachwuchs in ihre Organisation zu integrieren. 2022 waren laut Bundesverband Deutsche Jugendfeuerwehr 76.700 Kinder unter 10 Jahren erfasst, deutlich mehr als noch vier Jahre zuvor (42.700).

Youngcaritas
Naju
Jugendfeuerwehr
Feuerwehr Waischenberg

„Kompetenzerwerb stärker thematisieren“

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Die Politikwissenschaftlerin Annette Zimmer, Seniorprofessorin an der Universität Münster, spricht im Interview mit bürgerAktiv über Nachwuchsprobleme gemeinnütziger Organisationen und über Strategien, um junge Menschen zum Mitmachen zu gewinnen.

Wie entwickelt sich die Bereitschaft zum Engagement bei jungen Menschen?

Das Engagement entwickelt sich im Lebensverlauf. Es hängt zunächst, im Kindesalter, von den Eltern ab, etwa, wenn diese ihre Kinder an Kultur heranführen oder im Sportverein anmelden. Jugendliche wenden sich eher eigenen Themen zu, das haben wir zum Beispiel bei dem enormen Zulauf der Klimaproteste von Fridays for Future gesehen. Besorgniserregend ist, dass sich vor allem Jugendliche aus gebildeten, sozial besser gestellten Elternhäusern engagieren und andere gar nicht.

Wo fehlt der Nachwuchs besonders?

Viele etablierte Vereine, aber inzwischen auch Umweltorganisationen haben Probleme, junge Menschen zu gewinnen. Und einer traditionell ganz wichtigen Einrichtung, um junge Menschen für gemeinnütziges Engagement zu gewinnen, ist in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und Europa der Nachwuchs weitgehend weggebrochen: den Kirchen. Sie verzeichnen darüber hinaus auch drastische Rückgänge bei den Spenden.

Woran liegt es, wenn gemeinnützige Organisationen junge Menschen nicht für sich begeistern können?

Ich sehe zwei wichtige Ursachen: Zum einen haben junge Menschen an Souveränität über ihr Zeitmanagement eingebüßt. Die Ganztagsschulen lassen viel weniger Freiraum, sich regelmäßig und verbindlich etwa bei einem Verein zu engagieren. Auch Studiengänge an den Hochschulen sind heute sehr verplant. Zum anderen bemühen sich viele Organisationen nicht ernsthaft um junge Menschen. Es gibt Vereine, da kennen sich die Aktiven lange, fühlen sich miteinander wohl, werden zusammen alt und schrecken mit „Vereinsmeierei“ nicht nur junge Interessenten ab. Von Offenheit für neue Engagierte kann in solchen Organisationen keine Rede sein; man bleibt lieber unter sich. In unseren Studien beobachten wir, dass im Zweifel eher Frauen bereit sind, junge Leute zu integrieren.

Welche Strategien sind erfolgreich, um junge Leute zum Mitmachen zu gewinnen?

Manche Organisationen, zum Beispiel Sportvereine, versuchen, in den Ganztagsschulen Angebote zu machen. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, junge Menschen an Vereine heranzuführen. In jedem Fall braucht es die richtige Haltung: Man muss transparent sein und die neuen Mitglieder auch mal was machen lassen. In einer Studie hat eine meiner Kolleginnen Heimatvereine untersucht und festgestellt, dass es den Frauen dort gelungen ist, junge Menschen in ihre Projekte zu integrieren.
Wenn junge Menschen sich im Ehrenamt engagieren, erwerben sie auch Kompetenzen, die sie im Beruf gebrauchen können. Leadership, Teamfähigkeit. Ich wundere mich, dass dies von den werbenden Nonprofit-Organisationen nicht stärker herausgestellt wird.

Gibt es Länder, in denen Nachwuchsgewinnung besser funktioniert?

Wo die Kirchen stark sind, zeigt sich ein anderes Bild. In Europa ist das allerdings nicht der Fall. Leider muss man sagen, dass es rechte Parteien und Organisationen sind, denen es gelingt, junge Menschen zu binden. Sei es der Weg über rechte Rockgruppen oder über Angebote in entvölkerten ländlichen Räumen in Ostdeutschland, wo junge Männer angesprochen werden. Die machen dann bei den Rechten mit, fahren aber auch die Seniorin zum Arzt. Eine unglückselige Allianz ist das. Und eine Folge der Sparsamkeit am falschen Ende: Wenn man Jugendeinrichtungen schließt und die Angebote beendet, wo sollen sich die jungen Menschen dann treffen?

Interview: Gudrun Sonnenberg

Fokus Januar 2024: Service Learning – Wie sollen Schüler heute lernen und was?

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Große Leistungsunterschiede, abgehängte Schülerinnen und Schüler, elternhausabhängige Erfolge: Die Bildung in Deutschland kommt aus ihrer Schieflage nicht heraus. Die jüngste PISA-Studie, im Dezember 2023 veröffentlicht, hat das erneut bestätigt. Für bessere Lernerfolge braucht es jedoch nicht nur mehr Ressourcen, sondern auch andere Konzepte. Service Learning verbindet Bildungs- und Demokratieförderung und gibt Antwort auf die Frage, wie eine zukunftsfähige Bildung aussehen kann. Im Programm sozialgenial der Stiftung Aktive Bürgerschaft erproben bereits mehr als 1000 Schulen Service Learning in der Praxis. Im Fokus berichten Praktiker aus den Projekten, wie Service Learning wirkt, wie es funktioniert und wie es noch mehr bringen könnte.

Lesen Sie dazu diese Fokusbeiträge:

Drei Schulen, drei Fächer, eine Methode

In Service-Learning-Projekten engagieren sich Schülerinnen und Schüler für die Gemeinschaft und wenden dabei an, was sie im Fachunterricht der Schule gelernt haben. Drei Beispiele zeigen, wie das praktisch umgesetzt wird und wie die Projekte in den Schulalltag eingebunden werden können.
WWW.AKTIVE-BUERGERSCHAFT.DE/DREI-SCHULEN-DREI-FAECHER-EINE-METHODE/

„Mehr eigene Projekte, mehr Selbstwirksamkeit, andere Erfahrungen“

Lehrkräfte und Schulsozialarbeiterinnen, die sozialgenial-Projekte umsetzen, erleben motiviertere Schülerinnen und Schüler, die von Selbstwirksamkeit profitieren und Erfahrungen machen, die der normale Unterricht nicht ermöglicht. Doch das bestehende System der Wissensvermittlung lässt wenig Freiheit für solche Projekte. Drei Lehrkräfte und Sozialarbeiterinnen berichten, wo sie den Raum für sozialgenial finden und warum sich das für sie lohnt.
WWW.AKTIVE-BUERGERSCHAFT.DE/MEHR-EIGENE-PROJEKTE-MEHR-SELBSTWIRKSAMKEIT-ANDERE-ERFAHRUNGEN/

„Wir prüfen zu viel“

Die PISA-Studie förderte Ende 2023 bedrückend schlechte Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler sowie große Unterschiede zutage. Birgit Wenninghoff, Leiterin der Mathilde Anneke Gesamtschule in Münster, wünscht sich flexiblere Prüfungskonzepte und mehr Zeit für individuellen Unterricht und neue Formate.

www.aktive-buergerschaft.de/wir-pruefen-zu-viel

Auszubildende mit Teamfähigkeit und Sozialkompetenz gesucht – und bei sozialgenial gefunden

Technik verstehen, gut kommunizieren und einsatzbereit sein: Das ist eine dringend gesuchte Kombination bei der „Auf den Punkt Veranstaltungstechnik GmbH“ in Soest. Umso erfreuter war Geschäftsführer Hubertus Neuhaus, als ihn im März 2023 bei einer sozialgenial-Veranstaltung ein junger Mann ansprach und sein Interesse an einem Ausbildungsplatz als Veranstaltungstechniker bekundete.
www.aktive-buergerschaft.de/auszubildende-mit-teamfaehigkeit-und-sozialkompetenz-gesucht-und-bei-sozialgenial-gefunden/

Mehr zum Thema

Alles über sozialgenial:
www.sozialgenial.de
sozialgenial-Projektbeispiele und Zahlen:
www.sozialgenial.de/praxisbeispiele
Geschichten aus den Projekten, Erfahrungen, Hintergrund zum Programm: bürgerAktiv Magazin 2023/24 der Stiftung Aktive Bürgerschaft
www.aktive-buergerschaft.de/wp-content/uploads/2023/09/buergerAktivMagazin2023.pdf

 

Drei Schulen, drei Fächer, eine Methode

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Service Learning verbindet Bildung mit Engagement: Schülerinnen und Schüler engagieren sich für die Gemeinschaft und wenden dabei an, was sie im Fachunterricht der Schule gelernt haben. Drei Beispiele zeigen, wie es geht und wie die Projekte in den Schulunterricht eingebunden werden können.

„Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen – Google weiß ja schon alles –, sondern für das, was wir mit dem, was wir wissen, tun können.“ So beschreibt Andreas Schleicher, Bildungsdirektor bei der OECD und „Vater der PISA-Studie“ die Herausforderung zu entscheiden, was und wie junge Menschen heute lernen müssen. Nur wer gelernt hat, sein Wissen in unterschiedlichen Situationen zur Problemlösung anzuwenden, wer weiß, dass er sein Lebensumfeld mitgestalten kann und wer Verständnis und Empathie für seine Mitmenschen und ihre individuellen Lebensweisen entwickelt, kann gute Lösungen für die komplexen Probleme unserer Zeit finden.

Service Learning ist ein didaktisches Konzept, das Bildungs- und Demokratieförderung verbindet und eine Antwort sein kann auf die Frage, wie eine zukunftsfähige Bildung aussehen kann.

Was kannst du gut, was anderen nützt? Unter diesem Motto entwickeln Schülerinnen und Schüler im Unterricht Engagementprojekte, die eng mit Inhalten aus dem Lehrplan verknüpft sind. Sie engagieren sich in sozialen Einrichtungen, für Klimaschutz und Demokratie, für Integration und vieles mehr. Dabei arbeiten sie mit außerschulischen Partnern wie Vereinen, Stadtteilinitiativen oder gemeinnützigen Organisationen zusammen, können fachliches Wissen aus dem Unterricht in der Praxis anwenden, um an der Lösung realer gesellschaftlicher Probleme mitzuwirken, und stärken Schlüsselkompetenzen wie Kommunikations- und Teamfähigkeit, kritisches Denken und soziales Verantwortungsbewusstsein.

Service-Learning-Projekte dienen zum einen dazu, Lernziele zu erreichen und die fachlichen, sozialen und persönlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Sie lernen hier praxisnah und anwendungsorientiert und können einen konkreten Bezug der schulischen Inhalte zu ihrer eigenen Lebenswelt herstellen.

Zum anderen werden junge Menschen schon früh in ihrem Leben ermutigt, sich für ihr unmittelbares Lebensumfeld zu engagieren, sich mit realen gesellschaftlichen Problemen zu beschäftigen und an ihrer Lösung mitzuwirken und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Die Frage „Was kannst du gut?“ zielt darauf ab, sich ihre individuellen Stärken, Interessen und Neigungen bewusst zu machen und diese in die Projekte einzubringen. So erleben sie ganz direkt, dass sie mit ihren Kompetenzen einen wirkungsvollen Beitrag in der Gesellschaft leisten können.

Mit ihrem Programm sozialgenial fördert die Stiftung Aktive Bürgerschaft Service Learning an Schulen, damit junge Menschen fürs Leben lernen und frühzeitig und herkunftsunabhängig an ehrenamtliches Engagement herangeführt werden. Wie Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter ihren Unterricht mit Service Learning gestalten und was die Schülerinnen und Schüler in ihren Projekten lernen, zeigen Beispiele aus drei sozialgenial-Mitgliedschulen.

 

Religion: Lebenserfahrung im „Café Kränzchen“

Ein Café – ausgerechnet auf einem Friedhof? Gerade da, denn ein Friedhof sollte kein trauriger Ort sein, so dachten Schülerinnen und Schüler der Hannah-Arendt-Gesamtschule in Soest. Ihre Idee im Religionsunterricht: einen Raum für Begegnungen und Gespräche zu schaffen, ein Café auf dem Osthofenfriedhof.

Die Idee der Schüler passte wunderbar zu den Plänen der Soesterin Martina Brennecke, die ein Friedhofscafé eröffnen wollte. Das „Café Kränzchen“ ist ihr Projekt, und sie kann dabei auf die Mithilfe der Jugendlichen zählen.

Über die Stadt Soest kam der Kontakt zwischen ihr und den Schülern zustande, die Eröffnung des Café Kränzchen im April 2022 wurde von den Schülern tatkräftig unterstützt. Sie machten mit selbst entworfenen Flyern Werbung, besorgten Blumen für die Tischdeko und schenkten Café aus, vor allem aber schafften sie eine Gelegenheit für Gespräche mit den Besucherinnen und Besuchern des Friedhofs. Beide Seiten profitieren, findet Nils, einer der Schüler: „Die älteren Leute erzählen viel aus ihrem Leben, das höre ich mir gerne an, denn von ihren Erfahrungen können wir Jungen profitieren. Im Gegenzug können wir ihnen aber auch mit unserer Erfahrung zum Beispiel im Umgang mit Handys helfen.“

Alle zwei Wochen hat das Café nun mittwochs von 15 bis 17 Uhr geöffnet. „Durch die Kontakte mit den älteren Menschen lernen wir unfassbar viel fürs Leben“, berichtet die Schülerin Lucy. „Wir kommen mit den unterschiedlichsten Menschen ins Gespräch, die wir in der Schule nie treffen würden. Man lernt dabei super viel über den Umgang miteinander: Wertschätzendes Verhalten, ohne Vorbehalte jemandem gegenübertreten und dass Äußerlichkeiten nicht immer alles sind.“

Das Projekt geht weiter, für einen reibungslosen Übergang an den nachfolgenden Jahrgang ist gesorgt: Die Schule hat den Religionsunterricht mittwochs in die Randstunden gelegt. Jetzt liegen der Religionsunterricht und die Café-Öffnungszeiten parallel und die Schüler sind alle zwei Wochen statt in der Schule im Café.

 

BWL: „Rheine Rockt“ – ein Festival organisieren

„Rheine Rockt“ ist ein eintägiges Musikfestival, umsonst und draußen, mit lokalen Newcomer-Bands und seit der Erstausgabe 2016 aus dem lokalen Veranstaltungskalender nicht mehr wegzudenken. Wer hat’s erfunden? Schülerinnen und Schüler der Kaufmännischen Schulen Rheine.

„Think big!“ war die Ansage von Lehrer Claus Schrichten, als er vor einigen Jahren vor seinen Schülerinnen und Schülern stand und die Marschrichtung für das Schuljahr vorgab. Projekte sollten sie sich überlegen, in denen sie sich sozial engagieren konnten. Einige Schülerinnen hatten daraufhin die Idee, ein Rockfestival zu veranstalten, um Spenden für soziale Zwecke zu generieren. „Rheine Rockt“ war geboren. Es war gleich in der Erstausgabe ein Erfolg und wird seitdem in jedem Jahr im SozialGenial-Kurs am Beruflichen Gymnasium der Kaufmännischen Schulen Rheine organisiert. In dem Wahlpflichtkurs können und sollen die Schülerinnen und Schüler sich für andere engagieren und dabei ihr BWL-Wissen speziell zum Projektmanagement anwenden. Inzwischen ist der Kurs so beliebt, dass unter den Interessenten ausgelost werden muss, wer teilnehmen darf.

Bei der Organisation von „Rheine Rockt“ können die Schülerinnen und Schüler ihre fachlichen Kompetenzen aus den Fächern BWL, Mathematik und Deutsch in der Praxis anwenden. Der Aufgabenkatalog, den sie abarbeiten, steht dem eines professionellen Veranstalters in nichts nach: Sie kalkulieren Budgets und Preise, treffen Absprachen mit der Stadt, werben Sponsorengelder ein, verhandeln Angebote und beauftragen Dienstleister für Bühne, Licht und Ton, Sanitäranlagen, Sicherheit und Ordnung, buchen die Bands, machen Pressearbeit und Werbung, koordinieren die Abläufe am Tag der Veranstaltung.

Zum Schluss wird abgerechnet und dann bleibt – wenn die Kalkulation aufgegangen ist – ein ordentlicher Gewinn aus dem Getränkeverkauf übrig. 2023 konnten die Schülerinnen und Schüler 2500 Euro an roterkeil.net spenden, eine regionale Institution, die sich gegen Kindesmissbrauch und Kinderprostitution einsetzt. Ebenso besteht eine Kooperation mit dem Kinderschutzbund Rheine e.V., der über das Thema „Gewalt gegen Kinder“ vor Ort in der Schule aufklärt.

2023 konnte erstmals eine Betroffene gewonnen werden, die bei dem von den Schülerinnen und Schülern organisierten Event live auf der Bühne über ihre Erlebnisse sprach. Der Auftritt bewirkte, dass sich drei weitere Betroffene aus der Zuschauerschaft meldeten und über „Rheine Rockt“ Erstkontakt zu den benannten Hilfsorganisationen aufbauten. Die Betroffene informierte im Nachgang auch in der Schule über die schwerwiegenden Folgen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder.

Die Planungen für „Rheine Rockt“ 2024 laufen bereits auf Hochtouren.

 

Wahlpflicht: Belastungen erkennen und bewältigen

Die Corona-Pandemie war eine anstrengende Zeit und hat besonders bei Kindern und Jugendlichen Spuren hinterlassen. Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 9 und 10 der Heinrich-Heine-Gesamtschule Dreieich (Hessen) wollten in ihrem sozialgenial-Projekt herausfinden, wie ihre Mitschüler diese Zeit erlebt haben, was sie besonders belastet hat und wie sie mit den Belastungen umgegangen sind. Ebenso wichtig war ihnen, mehr Verständnis und Empathie seitens der Lehrkräfte zu gewinnen.

Angesiedelt war das Projekt im Wahlpflichtkurs „Service Learning – Lernen durch Engagement“, in dem sich die Schüler mit Problemen und Herausforderungen in ihrem Umfeld beschäftigen und sich für Verbesserungen einsetzen. Neben der Engagementerfahrung soll der Kurs soziale und methodische Kompetenzen vermitteln.

Die Kursteilnehmer entwickelten einen passgenauen Fragebogen, um zu erfahren, welche Probleme ihren Mitschülerinnen und Mitschülern auf dem Herzen lagen. Um Schulöffentlichkeit herzustellen, konnten sie zudem bei der Aktion „Briefewand“ ihre persönlichen Geschichten anonym einreichen. Die Beiträge wurden thematisch sortiert ausgestellt: So erkannten die Schülerinnen und Schüler, dass sie nicht allein waren mit ihrem Kummer, zudem wurden Lösungsstrategien gezeigt und über Hilfsangebote und Ansprechpartner informiert.

Das Projekt endete mit einem Aktionstag, an dem vier Workshops zu den Themen „Umgang mit Traumata“, „Prüfungsangst“, „Stressmanagement“ und „Gesund und fit durch den Schulalltag“ angeboten wurden.

Die engagierten Schülerinnen und Schüler erfuhren auch durch das Feedback der Schulgemeinde, dass sie etwas bewegen konnten: „Sie übernehmen Verantwortung, sehen, was für eine Wirkung sie haben in der Gesellschaft, das ist eine ganz wichtige Erfahrung“, bilanzierte Kursleiterin und Schulsozialarbeiterin Nicole Bondaug.

Weil die Schülerinnen und Schüler mit ihrem Projekt einen Nerv getroffen hatten, führten sie die Workshops zu Stressmanagement und Prüfungsangst im folgenden Schuljahr gleich noch einmal durch.

Sonja Beckmann, Caroline Deilmann, Stiftung Aktive Bürgerschaft

 

„Mehr eigene Projekte, mehr Selbstwirksamkeit, andere Erfahrungen“

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Lehrkräfte und Schulsozialarbeiterinnen, die sozialgenial-Projekte umsetzen, erleben motiviertere Schülerinnen und Schüler, die von Selbstwirksamkeit profitieren und Erfahrungen machen, die der normale Unterricht nicht ermöglicht. Doch das bestehende System der Wissensvermittlung lässt wenig Freiheit für solche Projekte. Drei Lehrkräfte und Sozialarbeiterinnen berichten, wo sie den Raum für sozialgenial finden und warum sich das für sie lohnt.

 

„Wegkommen von starren Lehrplänen“

Eike Garlichs ist Lehrer für Wirtschaftswissenschaften und Sport an den Kaufmännischen Schulen Rheine. Mit seinem Kollegen Claus Schrichten leitet er die zwei sozialgenial-Kurse am Beruflichen Gymnasium.

Was ist für Sie das Besondere am Service Learning, wo liegt für Sie der Mehrwert gegenüber anderen Unterrichtskonzepten?

Der größte Mehrwert besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler Projekte umsetzen können, die sie wirklich interessieren – irrelevant, ob es aktuell im Lehrplan steht oder nicht. Dadurch sind sie intrinsisch motiviert. Das geht über den normalen Fachunterricht hinaus und führt dazu, dass sie sich sozial engagieren und etwas für sich und die Gesellschaft tun.

Sie nutzen den Wahlpflichtbereich, um Service Learning umzusetzen. Was hindert Sie daran, Service Learning direkt im Fachunterricht umzusetzen?

An unserer Schule werden im Wahlpflichtbereich für die Engagementprojekte keine Noten vergeben. Die Schülerinnen und Schüler wissen: Das ist etwas für mich selbst und die Gesellschaft. Ich gestalte das Projekt so, wie ich es gern möchte. Das ist ein ganz entscheidender Punkt und deshalb finde ich es sinnvoll, Service Learning im Wahlpflichtbereich anzubieten. Der Fachunterricht hingegen ist zeitlich sehr eng getaktet, sodass sozialgenial nicht ausreichend Raum gegeben werden könnte.

Wie müsste sich Schule verändern, damit Service Learning zur Selbstverständlichkeit wird?

Eine Idee könnte sein, das starre Festhalten an Lehr- und Stundenplänen ein wenig zu lockern. Es wäre zu visionär und revolutionär gedacht, dieses in seiner Gesamtheit ganz aufzulösen, aber wenn die Schülerinnen und Schüler beispielsweise einen Tag in der Woche hätten, an dem sie Projekte umsetzten könnten, zu denen sie Lust haben – mit leichten Impulsen von uns Lehrkräften in Richtung Service Learning –, könnte ich mir vorstellen, dass es selbstverständlicher wird. Unsere Schule macht da schon viel und unsere Schülerinnen und Schüler sind sehr aktiv. Daher sind soziale Projekte im Leitbild unserer Schule als Beispiel für soziales Handeln verankert und viele Lehrkräfte unterstützen das.

 

„Das Beste ist, dass alle profitieren“

Nicole Bondaug ist Schulsozialarbeiterin an der Heinrich-Heine-Gesamtschule in Dreieich-Sprendlingen in Hessen. Zusätzlich unterrichtet sie den Kurs „Service Learning – Lernen durch Engagement“.

Was ist für Sie das Besondere am Service Learning, wo liegt für Sie der Mehrwert gegenüber anderen Unterrichtskonzepten?

Für mich ist das Beste am Service Learning, dass alle davon profitieren: Schülerinnen, Schüler und auch die außerschulischen Partner, für die die Projekte gemacht sind. Es ist eine Bereicherung für alle. Sich zu engagieren macht selbstsicher: Die Schülerinnen und Schüler lernen sich sehr gut kennen und bewältigen Herausforderungen, die sie im schulischen Alltag nicht haben. Natürlich sind gute Noten auch ein Lob und eine Anerkennung für das Lernen, aber beim Service Learning geht es um die menschliche Ebene, das konkrete Feedback, etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu tun und wertgeschätzt zu werden, das ist was ganz anderes. Die außerschulischen Partner profitieren von sozialgenial, weil die Schülerinnen und Schüler Themen recherchieren, für die es einen Bedarf gibt. Deshalb freuen sie sich über das Engagement. Auch die Schulleitung findet das toll, weil es den Ruf der Schule noch mal verbessert.

Sie nutzen den Wahlpflichtbereich, um Service Learning umzusetzen. Was hindert Sie daran, Service Learning direkt im Fachunterricht umzusetzen?

Mich persönlich hindert mein Beruf daran, ich bin Sozialpädagogin. Für mich ist Service Learning ideal, denn es vereint soziale Arbeit und Beziehungsarbeit. Es gibt aber auch Kollegen, die das im Fachunterricht machen, zum Beispiel im Religionsunterricht. Die Frage ist, ob der Lehrplan da noch Raum lässt.

Wie müsste sich Schule verändern, damit Service Learning zur Selbstverständlichkeit wird?

Es müsste weniger um Wissensvermittlung, sondern eher um Erfahrungslernen und Selbstwirksamkeit gehen, das sollte eine viel größere Rolle spielen im schulischen Konzept. Reformen sind nötig, die Digitalisierung und die aktuellen Entwicklungen in der Welt stellen gewaltige Herausforderungen dar, für die wir andere Konzepte brauchen. Es wäre wichtig, dass mehr Wert auf Demokratiebildung gelegt wird und dass mehr Schülerinnen und Schüler Erfahrungen im bürgerschaftlichen Engagement sammeln.

 

„Den Stundenplan entsprechend gestalten“

Sarah Menne unterrichtet Englisch und evangelische Religionslehre an der Hannah-Arendt-Gesamtschule in Soest. Ihre Schülerinnen und Schüler engagieren sich direkt aus dem Fachunterricht heraus.

Was ist für Sie das Besondere am Service Learning, wo liegt für Sie der Mehrwert gegenüber anderen Unterrichtskonzepten?

Die Hannah-Arendt-Gesamtschule Soest setzt auf Projektarbeit. In sozialgenial-Projekten können die Schülerinnen und Schüler theoretisch erworbene Fähigkeiten lebensnah umsetzen. So gewinnt das Erlernte Bedeutung für die eigene Lebenswelt. Zu einer reformpädagogisch orientierten Gesamtschule zählt das Lernen mit Kopf, Herz und Hand. Diesen Leitsatz unterstützt Service Learning auf ganzer Linie. In einem Verbund engagierter Kolleginnen und Kollegen führen wir bei sozialgenial die Schülerinnen und Schüler herkunftsunabhängig an soziales Engagement heran und begleiten sie dabei.

Sie setzen Service Learning im Fachunterricht um, wie gelingt es Ihnen, die dafür nötigen zeitlichen Freiräume zu finden?

Möglich ist dies durch die Unterstützung derer, die den Stundenplan gestalten: Mein Kurs, der evangelische Religionsunterricht, findet nachmittags statt, sodass sich die Schülerinnen und Schüler in der Unterrichtszeit bei außerschulischen Partnern wie dem Café Kränzchen engagieren können. Hervorheben möchte ich die Unterstützung der Schulleitung, die die Lernenden und Fachlehrerinnen produktiv und aufrichtig bei den organisatorischen Herausforderungen berät.

Wie müsste sich Schule verändern, damit Service Learning zur Selbstverständlichkeit wird?

Das System Schule sollte Schülerinnen und Schüler bestmöglich dabei unterstützen, autonom ihre Wege zu gehen. Aber nicht nur das Verfolgen eigener (schulischer) Ziele sollte Berücksichtigung finden, sondern auch das Wahrnehmen sozialer Pflichten – und das so früh wie möglich. Ich bin sehr dankbar und stolz, dass unserer Schulgemeinschaft dies gelingt, indem durch das Service Learning im Fachunterricht Projekten wie dem Café Kränzchen in Soest Raum und Zeit gegeben wird.

Interviews: Sonja Beckmann, Stiftung Aktive Bürgerschaft

„Wir prüfen zu viel“

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Die Pisa-Studie förderte Ende 2023 bedrückend schlechte Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler sowie große Unterschiede zutage. Birgit Wenninghoff, Leiterin der Mathilde Anneke Gesamtschule in Münster, wünscht sich flexiblere Prüfungskonzepte und mehr Zeit für individuellen Unterricht und neue Formate.

Finden Sie Ihre Schule in den schlechten Pisa-Ergebnissen wieder?

Die PISA-Ergebnisse haben mich nicht überrascht. Aus meiner Sicht sind diese Entwicklungen eine Folge der Selektion in unserem Schulsystem, das die Schülerinnen und Schüler nach der Grundschule in unterschiedliche Schultypen sortiert. Wenn etwa Schülerinnen und Schüler mit Sprachschwierigkeiten unter sich bleiben, kommen sie natürlich nicht so gut weiter. Bei uns auf der Gesamtschule können alle Schüler gemeinsam lernen und profitieren voneinander.

Woran liegen die Mängel? Zu wenig Ressourcen, falsch qualifizierte Lehrkräfte, fehlende Konzepte?

Neben mehr gut qualifiziertem Personal fehlen uns vor allem Freiräume. Das Problem ist unsere Prüfungskultur! Wir prüfen zu viel. Vor allem in der Oberstufe, in der alles auf das Abitur hinausläuft. Es bleibt keine Zeit, um das zu tun, worauf es ankommt, nämlich individuelle Rückstände aufzuholen. Wenn jemand in Englisch eine Fünf schreibt, arbeite ich doch sinnvollerweise mit diesem Schüler den Lernstoff nach, anstatt ihn mitsamt seinen Lücken in die nächste Prüfung zu schicken. Aber für solche auf die Individuen bezogenen Ansätze ist wenig Raum.

Wie geht es besser?

Wir müssen uns fragen, ob unsere Konzepte noch zeitgemäß sind. Wir brauchen alternative Formate und müssen kreativer und problemlösungsorientierter arbeiten. Die OECD hat für zukunftsfähige Bildung vier Kompetenzen definiert, die Schülerinnen und Schüler erwerben sollten: Kreativität, Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit und Kritisches Denken. Diese Ziele werden bei uns im Service Learning adressiert. Die Kinder engagieren sich in sozialgenial-Projekten in der 7. und in der 11. Jahrgangsstufe. Sie müssen mit Einrichtungen außerhalb der Schule kommunizieren, müssen Entscheidungen treffen und machen viele neue Erfahrungen. Sie erleben, dass es Spaß macht, sich für andere einzusetzen.

Welche Rolle kann das Service Learning für das Lernen insgesamt spielen?

In den sozialgenial-Projekten findet viel informelles Lernen statt. Das ist wichtig. Die Projekte zu ermöglichen steht und fällt mit dem Engagement der Lehrkräfte, die aus den genannten Gründen zuweilen ziemlich kreativ sein müssen, um die nötigen Freiräume zu finden. Insgesamt bräuchten Lehrerinnen und Lehrer vor allem mehr Zeit. Offiziell vier Stunden pro Woche nur für Konzeption: Das wäre mein Traum!

Interview: Gudrun Sonnenberg, Stiftung Aktive Bürgerschaft

 

Auszubildende mit Teamfähigkeit und Sozialkompetenz gesucht – und bei sozialgenial gefunden

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Technik verstehen, gut kommunizieren und einsatzbereit sein: Das ist eine dringend gesuchte Kombination bei der „Auf den Punkt Veranstaltungstechnik GmbH“ in Soest. Umso erfreuter war Geschäftsführer Hubertus Neuhaus, als ihn im März 2023 bei einer sozialgenial-Veranstaltung ein junger Mann ansprach und sein Interesse an einem Ausbildungsplatz als Veranstaltungstechniker bekundete.

Denn der Schüler, der kurz vor dem Abitur stand, war nicht nur technikaffin, sondern konnte auch sein Anliegen in wohlgesetzten Worten mitteilen. Und nicht zuletzt hat er den Mut, mich anzusprechen, dachte Neuhaus.

Die Begegnung fand bei einer Veranstaltung der Volksbank Hellweg und der Stiftung Aktive Bürgerschaft statt. Unter dem Titel „Fürs Leben lernen mit sozialgenial“ hatten sie Schulen, die am Service-Learning-Programm sozialgenial der Aktiven Bürgerschaft teilnehmen, eingeladen, ihre Projekte vorzustellen. Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter sowie Vertreter aus Wirtschaft und Politik vernetzten sich und tauschten sich in Podiumsdiskussionen über die Erfahrungen mit dem Programm aus. Neuhaus steuerte in so einer Runde seine Perspektive als Arbeitgeber bei und berichtete, wie wichtig es ist, teamfähigen Nachwuchs zu finden.

Lauritz hatte gut zugehört

Lauritz Lichtwark, Schüler an der Hannah-Arendt-Gesamtschule und sozialgenial-Teilnehmer, hatte gut zugehört und war, direkt als Neuhaus vom Podium herunterstieg, auf ihn zugetreten. Neuhaus freut sich bis heute. Er sagt: „Von der Ansprache, die heute bei jungen Auszubildenden schon meist nicht in ganzen Sätzen formuliert werden kann, war ich bei ihm schon positiv überrascht und sagte sofort zu. Die in meinem Statement auf der Bühne beschriebene Sozialkompetenz war auf den ersten Blick auf jeden Fall schon einmal gegeben!“

Es sei zwar einfach, Interessenten zu finden für Veranstaltungstechnik, so Neuhaus. Die Branche suggeriere Ruhm und Party. Aber die Arbeitszeiten seien unregelmäßig und in der Realität müsse man zupacken können: „Wer bei null Grad und Regen die Hände in die Taschen steckt, wenn die Kollegen die Bühne vom Weihnachtsmarkt abbauen, ist fehl am Platz.“ So manche interessierten Jugendlichen stellen das im Praktikum fest. Anderen fehle das Gespür für Kunden, die beispielsweise nicht alle mit dem Wissen geboren sind, wie man in ein Mikro spricht. Man muss auch vernünftige E-Mails schreiben und Zentimeter in Meter umrechnen können.

„Lauritz hat die richtige Kombination von Kompetenzen. Ich habe tatsächlich noch nie so viel positive Rückmeldung von Kollegen, Geschäftspartnern und Kunden über einen Auszubildenden bekommen. Inzwischen ist er gar nicht mehr aus dem Team wegzudenken und hat sich super integriert“, sagt Neuhaus. „Das Programm sozialgenial scheint also genau an der richtigen Stelle anzusetzen oder ist zumindest ein guter Indikator für junge Menschen mit ausgeprägten sozialen Kompetenzen und verstärkt diese noch mal. Ich habe auch schon einigen Unternehmerkollegen von meinen Erfahrungen berichten können, denn es sorgt ja schon für Aufsehen, wenn man noch relativ knapp vor Ausbildungsstart einen so guten Azubi verpflichten kann.“

Gudrun Sonnenberg, Stiftung Aktive Bürgerschaft